Florida im Mai 2018

Suse65

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Hallo liebe Gemeinschaft der Florida-Reisenden,

nachdem ich mich hier ein bißchen umgesehen habe, denke ich, daß mein/unser Reisebericht für hiesige Gewohnheiten bereits ein bißchen veraltet ist, weil Ihr immer alle so aktuell schreibt. Daß er etwas später kommt, hat seinen Grund, er war eigentlich zur Veröffentlichung in einem anderen Reiseforum gedacht, das mit Florida rein gar nichts zu tun hat, und in dem mein Mann und ich seit vielen Jahren Mitglieder sind und unsere Reiseberichte gewohnheitsmäßig veröffentlichen. Da mir hier aber mit meinen Fragen weitergeholfen wurde, will ich mich mal revanchieren und hoffe, daß er ein bißchen gefällt.

Da ich weiß, daß das geschriebene Wort manchmal anders ankommt als gemeint, möchte ich vorweg noch sagen, daß das oben Gesagte auch die Erklärung dafür ist, weshalb der Reisebericht so viele Erklärungen zum Inhalt hat, die langjährigen Floridaerfahrenen größtenteils bereits geläufig sind. Das soll also bitte hier nicht als Schlaumeierei empfunden werden, sondern war dazu gedacht, den Leuten in unserem "Stammforum" Florida näherzubringen und möglichst auch schmackhaft zu machen.

Alles andere sind unsere persönlichen Empfindungen und Eindrücke.

Zu uns: Mein Mann ist seit den frühen Neunziger Jahren regelmäßiger Floridareisender, früher auch Taucher (auch Höhlen, grusel o_O) , und fotografiert. Ich war erst zum zweiten Mal dort, bin begeisterte Hobby-Botanikerin und schnorchele gern. Außerdem knipse ich so ohne weiteren Anspruch herum. ;) Die Fotos sind bis auf wenige Ausnahmen alle von meinem Mann, alle anderen von mir. Welche das sind, erkennt man, glaube ich. :whistle:

Die vielen Links sind hoffentlich erlaubt, falls nicht, lasse man mich das wissen, dann entferne ich sie. Der Bericht ist ziemlich lang, ich stelle ihn in Etappen ein.



Wir waren gut vier Wochen und über 5000 km unterwegs, von Miami über Key West nach Orlando und dann hinauf in den hohen Norden bis nach Georgia, was wiederum aus Sicht der restlichen USA das ist, was sie Dixie nennen, den tiefen Süden.

Los geht es über London mit British Airways nach Miami mit einem Airbus 380. Bei der gewaltigen Maschine dauert es ewig, bis alle 800 Passagiere an Bord sind, und um uns die Wartezeit zu versüßen, werden wir mit derartig aufdringlich lauter Klassik beschallt, daß es eine Wohltat ist, als sich endlich mal jemand von der Crew zu Wort meldet und das schrille Gefiedel unterbricht. Am Service und Essen hatte zumindest ich nichts dann nichts mehr zu meckern, auch wenn sie bei BA ein bißchen knickerig mit Getränken sind. Es geht eben nichts über die Selbstbedienungswagen bei Air France.

Dafür wird bei den Franzosen natürlich keine an die Hauptmahlzeit anschließende Teatime zelebriert. Als ein Fluggast in der Reihe vor uns fragt, ob sie denn wohl auch Kräutertee bekommen könne, zieht der junge Stewart, der mit so formvollendeter Haltung den Tee ausschenkt, als käme er direkt von der Butlerschule, eine stiff upper lip und antwortet ihr, nein, Madam, wir schenken hier nur englischen Tee aus. Cheerio Miss Sophie!

Auch das Entertainmentprogramm ist unterhaltsam. Es gibt einiges an Spielen und ziemlich viele brandneue Filme, darunter einige, die ich sowieso gern sehen wollte. So ein Langstreckenflug bei Tag, vor allem, wenn man mit der Zeit fliegt, erweckt ja irgendwie das Gefühl, die Zeit dehne sich endlos aus. Da ich sowieso nicht schlafen kann, schaue ich mir, wohl beeinflußt von so viel britischem Flair, Goodbye Christopher Robin an, der die traurige Geschichte hinter den Winnie Pooh-Geschichten erzählt, und welchen zerstörerischen Einfluß diese eigentlich ja so wunderbaren Bücher, die natürlich auch ich als Kind geliebt habe, auf den echten Christopher Robin gehabt haben.
Als wir in Miami landen, bin ich in Gedanken noch ganz im 100 Morgen-Wald und immer noch enttäuscht darüber, daß A.A. Milne so ein charakterschwacher Idiot gewesen sein soll, während wir uns in die endlose Schlange der Hundertschaften einreihen, die ja jetzt allesamt dieser Kathedrale von einem Flugzeug entstiegen sind.

Winnie und seine Freunde scheinen uns dann prompt auch noch eine Weile zu begleiten. Der Wagen, den wir uns im Rental Center abholen, ist ein i-A (ein Toyota Yaris), auf der Fahrt vom Flughafen nach Miami Beach rasen die früher so Speedlimit-hörigen Amerikaner inzwischen durch die nächtlichen Straßen, als hätten sie alle Tigger im Tank, und im Hotel angekommen, hat in unserem Zimmer zuletzt offensichtlich Ferkel gehaust.

Als ich zur Rezeption zurückgehe, um das Zimmer, das wohl seit dem letzten Auszug kein Housekeeping gesehen hat, zu reklamieren, holt Paula Cuba, die uns eingecheckt hat, erschrocken ihre Kollegin Ana Maria Venezuela zur Hilfe, und mir dämmert, daß das, was ich für einen zufällig nach der Insel klingenden Nachnamen gehalten habe, offensichtlich ein Hinweis auf das Herkunftsland ist. Was das nun zu bedeuten hat, kann ich mir nicht erklären, mag das aber auch nicht fragen. Miami hatte meines Wissens schon immer einen hohen Anteil an spanischsprachigen Einwohnern vor allem kubanischer Herkunft, und welchen Zweck dieser Stempel, den man den Personen damit aufdrückt, haben soll, erschließt sich mir nicht. Ich finde es schon irgendwie diskriminierend und bin ganz froh, als ich später noch sehen werde, daß ich nicht allein so denke.

Paula und Ana Maria entscheiden, daß wir für die entstandenen Unannehmlichkeiten ein Upgrade bekommen, und so landen wir ein Stockwerk höher in einer Suite. Das Lexington, das wir uns für die ersten Nächte ausgesucht haben, liegt direkt am Strand und eigentlich wäre das mit dem Zimmer nun ganz toll, wenn denn nicht gerade aktuell eine ziemlich steife Brise vom Atlantik direkt gen Westen wehen würde, die nun also genau auf unserer Fensterfront liegt und permanent pfeift. Auf dem Balkon kann man gar nicht sitzen, selbst das Abstellen eines Getränks ist riskant. Alles in einer Größenordnung von unter einem Liter wird einfach umgeweht.

Das Hotel gefällt uns an sich gut, die Gestaltung der Lobby ist ziemlich edel und läßt es viel teurer wirken, als es ist. Die Zimmer sind aber amerikanischer Durchschnitt und ein klein bißchen abgewohnt, aber das geht eben auch schnell so direkt am Meer, daß alles abblättert. Abendessen gibt es in einem Subway, mit Eistee zum kostenlosen Nachfüllen, herrlich. Dann ist es auch in Miami schon späte Nacht und für uns dringend Schlafenszeit.





Am nächsten Morgen bläst der heiße Wind von Osten unverändert. Die Palmwedel knattern, einige wenige Sonnenschirme am Strand flattern wild und werden dann später auch weggeräumt. Am Strand ist kein Mensch. Vom Beach in Miami Beach haben wir gerade nicht so viel.







Also auf zum Walmart, mit der nötigen Ausrüstung für die kommenden Touren versorgen. Einen Walmart gibt es jedoch erst in North Miami Beach, wie uns eine junge Dame an der Rezeption sagt, die anhand eines fehlenden Herkunftslandes auf ihrem Namensschild vermutlich als US-Amerikanische Staatsangehörige zu identifizieren sein soll.
Wir frühstücken wieder im Subway, und wieder gibt es süßen Eistee, den ich natürlich mehrmals nachfülle. So lecker.

Den Walmart finden wir nach etwas Herumsucherei, während derer wir erstaunt feststellen, daß Miami Beach in den letzten fünf Jahren noch deutlich an Gebäuden zugelegt hat. Darunter weniger Hotels, viel mehr Apartmenthäuser mit Eigentumswohnungen, sogenannte Condominiums. Entlang der Strandseite der Collins Avenue, die sich einmal von Süd nach Nord über die Insel zieht, eigentlich keine Baulücke mehr. Auf Sunny Isles entdecke ich drei kleine Trump-Towers, vermutlich auch Condos, genau kann man das so im Vorbeifahren aber nicht erkennen.

Einmal im Walmart angekommen, beginnt die Kreditkarte zu glühen. Angefangen mit einer Kühlbox aus Styropor und zwei grünen Klappstühlen über diverse Getränke, Sonnenmilch und vor allem Medikamenten, die in Deutschland mindestens apothekenpflichtig, hier aber frei verkäuflich und vor allem deutlich günstiger sind, füllt sich der Einkaufswagen. Wo man schon mal dabei ist, gesellen sich auch noch ein paar T-Shirts und eine Jeans dazu, später werden es noch einige Klamotten mehr werden, aber für heute sind wir schon wieder platt. Der Jetlag macht sich bemerkbar und wir trödeln gemütlich wieder gen Süden.

Mein Mann bringt danach tatsächlich noch genügend Energie für eine kleine Fototour auf.
In unmittelbarer Nachbarschaft unserer Unterkunft befinden sich zahlreiche Luxushotels, darunter das durch den James Bond-Film Goldfinger vor 54 Jahren behanntgewordene Fontainebleau, das erst kürzlich für eine Milliarde Dollar saniert und ausgebaut wurde. Reges Treiben um diese Anlage zwischen Taxis, Chauffeurs-Limousinen, exklusiven Sportwagen und Yachten verleiht der Stadt hier ein besonderes Flair.




















Während der Mann unterwegs ist, gebe ich dem Balkon noch eine Chance. Allerdings vergebens, der Atlantik-Föhn ist immer noch so dermaßen an, daß man sich hier mit einer Flasche Haarspray ausgerüstet ohne Probleme bombastische Miami Vice-taugliche 80er Jahre-Frisuren basteln könnte. :cool:

Das Ergebnis der frühen Siesta ist dann natürlich, daß wir mitten in der Nacht aufwachen und jetzt hellwach und hungrig sind. Die Lösung heißt der Einfachheit halber wieder Walmart, wie die meisten Walmart-Supercenter hat auch dieser einen McDonalds, der bis 00 Uhr geöffnet hat. Also wieder die Collins Avenue hinauf. Diesmal bei Nacht, entlang des Indian River, genau dort, wo sich Tubbs und Crockett in der Miami Vice-Pilotfolge ihre legendäre Verfolgungsjagd mit Boot und Auto lieferten.

Von den unzähligen Apartmenthäusern sind die meisten fast vollständig dunkel, nur hier und da ein erleuchtetes Fenster. Ob sich diese Art von Immobiliengeschäft wirklich lohnt? Wer kauft diese ganzen Wohnungen? Ich finde die Vorstellung, in einem dieser Wolkenkratzer irgendwo im 27. Stock ganz allein zu sein, ziemlich gruselig. Oder, noch schlimmer, womöglich dort eine Pizza hinliefern zu müssen…

Man mag Miami Beach für eine betonierte Plastikwelt halten, aber ein bißchen haben sie sich ihren Bezug zur Natur dennoch bewahrt. Entlang der Straße immer wieder Warnschilder: Alkohol, offenes Feuer und Party am Strand sind verboten, es ist Turtle Nesting Season. Daran könnte sich so manches Land, das sich seines Naturschutzes rühmt, ein Beispiel nehmen, mir fiele da direkt eines ein…



Bei McDonalds kommen wir gerade noch rechtzeitig vor Ladenschluß an. Die Verständigung ist schwierig, das Englisch der Bedienung ist noch schlechter als meines und verstehen kann ich sie fast gar nicht. Während ich bestelle, versucht hinter mir ein junger Mann sich durch das bereits geschlossene Absperrgitter zu quetschen und wird von der Frau, die gerade meine Bestellung durcheinander bringt, lachend mit etwas, das wie ein genuscheltes „sorti la“ klingt, hinausgeworfen. Man kennt sich offensichtlich, zwischen Gitter und Tresen unterhält man sich über die Distanz halblaut auf Kreol. Vertraute Klänge, die man in Miami vielleicht nicht unbedingt erwartet. Namensschildchen mit dem Verweis auf das Herkunftsland Haiti habe ich bislang noch nicht gesehen, aber der großen Population an Haitianern wird an vielen Orten Rechnung getragen, indem Schilder neben Englisch und Spanisch auch auf Haiti-Kreyol abgefaßt sind. Obwohl ich es versuche, kann ich dem Gespräch nicht folgen, ich glaube, Haitianisches Kreyol ist vom Französischen noch sehr viel weiter entfernt als die Kreolsprachen des Indischen Ozeans.

Eine schlaflose Nacht in Miami Beach kann man sehr gut am Ocean Drive verbringen. Die Art Déco-Häuser sind bei Tag schon eine Augenweide, nachts verleihen die grellbunte Beleuchtung und die Neonröhren-Illuminationen nochmal eine ganz andere Atmosphäre.







Auf dem Drive permanent im Schritttempo herumcruisende Spaßmobile in bonbonfarbenen Lackierungen, das Ganze untermalt von kubanischer Musik, die aus den Clubs dringt, das könnte einem das Gefühl vermitteln, man befände sich mitten in einem Werbespot für irgendein Wohlfühlprodukt, wären da nicht die grellen Scheinwerfer, die die Rasenflächen bis zum Strand hin beleuchten, und die allgegenwärtige Polizeipräsenz in den Schattenarealen dazwischen. Aber es hat was, jetzt hier so herumzuspazieren, und wir bleiben bis morgens um drei.









Die Art Déco-Architektur ist wirklich sehenswert, aber am Folgetag entdecken wir per Zufall etwas, das uns mindestens genauso gefällt. Dazu ist allerdings erforderlich, daß ich auf die Unternehmung verzichte, auf die ich mich in Miami eigentlich am meisten gefreut hatte, nämlich zum Jai Alai zu gehen.

Eigentlich gehört es nicht in diesen Reisebericht, da wir diesmal nicht wieder dort waren, und ich erwähne es nur, um quasi ein bißchen Werbung zu machen. Gemessen an der Medienpräsenz, die Jai Alai noch bis in die frühen 90er Jahre in Florida gehabt hat, ist es inzwischen fast zur Bedeutungslosigkeit verschwunden. Dabei ist es spannend, rasant und der Fronton in Miami ein historisches Gebäude, eines der ältesten der Stadt, und schon deshalb sehenswert in dieser schnelllebigen Umgebung. Auch wenn man nicht wetten möchte und die Spielregeln einen nicht interessieren, hat es ganz viel Atmosphäre, in der großen Zuschauerhalle zwischen den Locals zu sitzen. Es gibt ein kleines Museum und Eintritt kostet es auch nicht. Zur Illustration hier mal zwei Fotos von der letzten Reise:





Da wir morgen aber schon abreisen, müssen wir irgendwo Abstriche machen. Der Vorabend im haitianischen McDonald’s hat uns daran erinnert, daß wir der kulturellen Vielfalt von Miami, der diese Stadt sich rühmt, bislang eigentlich noch kaum Beachtung geschenkt haben. Also verzichte ich ein bißchen bedauernd auf eine Wiederholung des Besuchs beim Jai Alai und wir beschließen, uns mal die Wynwood Walls anzuschauen.
 
OP
Suse65

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Biscayne Boulevard und Wynwood Walls

Mit einem Stadtplan ausgerüstet, auf dem die Sehenswürdigkeiten allerdings in so großen Ziffern eingezeichnet sind, daß dabei ganze Stadtteile abgedeckt werden, schaffen wir es prompt, uns auf Anhieb zu verfahren und landen in der falschen Richtung auf dem Biscayne Boulevard. Die positive Überraschung ist, daß wir nach kurzer Fahrzeit völlig unerwartet in etwas landen, das sich „Historic District“ nennt und wir hier ununterbrochen Motels passieren, die originale Gebäude der 50er Jahre zu sein scheinen, eines schöner als das andere. In einer Seitenstraße finden wir sogar einen kostenlosen Parkplatz und gehen auf Fototour.
















Hier ist sogar der Gehweg im typischen 50er Jahre-Design gestaltet, und während man die Reihe der Gebäude abgeht fühlt man sich wie auf einer Zeitreise, die Hochhäuser von Miami Beach am Horizont sind irgendwie ganz weit weg.

Die alten Motels sind offenbar alle noch in Betrieb, vor einigen stehen Autos, bei denen man jetzt direkt die Heckflossen vermisst; die Deko aus Kakteen, Manatee-Briefkästen und Plastikflamingos, so schön kitschig. Es hat so viel Charme, manches allerdings auch schon ein bißchen den morbiden Charme des Verfalls.



Um zu den Wynwood Walls zu kommen, müssen wir uns durchfragen und ein bißchen auf gut Glück in die Seitenstraßen fahren. Schließlich entdecken wir die ersten besprayten Hauswände, die Gegend lädt allerdings gerade gar nicht zum Aussteigen ein. Während wir im Schritttempo an immer bunteren Wänden in einer Art Industriegebiet vorbeifahren, die uns zeigen, daß wir richtig sind, passieren wir die seltsamen Anblick eines fraglichen Autohändlers, der in seinem Hinterhof hinter einer massiven Eisenabsperrung Lamborghini-Sondermodelle und Ähnliches verwahrt. In direkter Nachbarschaft eine Obdachlosen-Anlaufstelle, vor deren Eingang eine Schlange steht. Auch alle verfügbaren Schattenplätze sind mit Menschen in mehr oder weniger gutem körperlichen Zustand belegt. Der Unterschied zwischen den trotz aller Sicherheitsvorkehrungen ja gut sichtbar zur Schau gestellten Luxusautos und der Verelendung ist so krass, daß man es fotografieren möchte, was wir aber nicht tun.

Auf den Straßen zunächst überhaupt keine weiteren Menschen und nur wenige Autos, niemand, der auch nur im entferntesten wie ein Tourist aussieht, die Gegend wirkt irgendwie verlassen. Ob es vielleicht üblich ist, sich die Walls nur im Vorbeifahren anzuschauen? Wir parken ein bißchen unschlüssig vor einem Gebäude, auf dem in einem großflächigen Graffiti verschiedene berühmte Serienverbrecher verewigt worden sind, darunter auch ein fast niedlich aussehender Hannibal Lecter mit Maske, und rätseln, ob wir uns raustrauen sollen. Schließlich taucht das erste Polizeiauto auf, das offensichtlich streifefahrend langsam vorbeirollt, und wir wagen uns auf die Straße.



Wir sind kaum ein paar Minuten fotografierend unterwegs, als plötzlich überall um uns herum Wagen einparken und eindeutig als Touristen identifizierbare Personengruppen mit ihrem Fotokram losmarschieren. Wir waren wohl einfach nur zu früh dran.













Hier ist eigentlich alles besprüht, nicht nur die Hauswände, auch die Industrieanlagen und Mülleimer. Nicht alle der Graffiti sind einfach nur phantasievoll-künstlerisch, es ist einiges Sozialkritisches darunter, manches läßt so allerhand Spielraum zur Interpretation. Kunst zum Nachdenken und zum Anfassen. Es hat sich sehr gelohnt, hier hergekommen zu sein.






Abendessen besorgen wir uns heute im Publix, außerdem Getränkeproviant für die morgige Fahrt auf die Keys. Und weil wir sowieso Lust haben, nochmal nach Surfside hineinzufahren. Hier haben wir letztes Mal gewohnt und eigentlich gefällt es mir hier viel besser, als am südlichen Ende der Collins Avenue, wo wir diesmal wohnen, auch wenn das Lexington als Unterkunft wirklich ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bietet.

Surfside ist eine kleine Gemeinde in der Mitte von Miami Beach, die sich trotz aller Bauwut an der Strandseite noch einen altmodischen Charme bewahrt hat. Landseitig, also zum Indian Creek hinüber, gibt es noch viele kleinere Häuser, maximal dreistöckig, die im etwas schlichteren Stil des Miami Modern gehalten sind, mit abgerundeten Hauswänden und über Eck gebauten Sprossenfenstern, die bunt und gemütlich aussehen. Der Strand unterscheidet sich für mich optisch nicht vom restlichen Miami Beach, aber für die Schildkröten wohl schon, denn hierher kommen angeblich die meisten zur Eiablage. Deshalb stehen hier nachts auch die meisten Hinweisschilder, die das nächtliche Feiern am Strand untersagen.

Vermutlich auch deshalb ist die Meeresschildkröte das Wappentier von Surfside und in der 93. Straße wird ihr mit einer kleinen Ausstellung, dem Turtle Walk, gehuldigt. Zu beiden Seiten der höchstens 50 m langen Straße stehen Schildkrötenskulpturen aus Fiberglas, die von verschiedenen Künstlern bemalt wurden. Jede Schildkröte erzählt eine andere Geschichte, und so heißt die ganze Kunstaktion dann auch: Tale of the Surfside Turtle.







http://www.miamiandbeaches.de/places-to-see/surfside/surfside-turtles

Die Kröten sind rasch angeschaut, was gut ist, weil wir das Auto ohne zu bezahlen genau vor der Gemeinde abgestellt haben, und uns deshalb lieber ein bißchen kurz fassen und zum Haulover Park weiterfahren. Hier an der Marina kann man nett sitzen und gemeinsam mit zahlreichen Pelikanen den Fischern beim Ausnehmen des Tagesfanges zusehen. Außerdem gibt es ein tiptop sauberes öffentliches Klo. Ist ja auch vielleicht nicht unwichtig zu wissen.





Meist ist man hier, abgesehen von ein paar Leuten, die Fisch kaufen oder eine Hochseeangeltour buchen wollen, allein. Dienstags gibt es einen Streetfood-Markt, dafür wird überall geworben, aber den haben wir verpaßt.

http://miamifoodtrucksevents.com/

Ansonsten gibt es hier nichts Spannendes, aber es ist ein netter Ort, um sich ein bißchen Hafenluft um die Nase wehen zu lassen. Die Yachten, die hier liegen, sind enorm, aber die Marina ist nicht öffentlich und der Steg nicht zugänglich.

Der Publix ist gleich um die Ecke der Surfside Turtles und wir versorgen uns hier mit Leckereien, der Mann mit Krabbenbeinen, ich mich mit mehreren Tüten Sweet Baby Ray’s Beef Jerky und einer Gallone süßem Eistee, der ja nirgends so schmeckt wie in den USA. Zurück im Hotel, bei fest verschlossener Balkontür und umheult vom Wind, sitzen wir dann sehr gemütlich und futtern, bis es Zeit ist zum Kofferpacken.

Am nächsten Morgen geht es weiter gen Süden. Wir verlassen Miami Beach mit einem letzten Blick vom Balkon. Jetzt, wo wir abreisen, läßt der Wind langsam nach, war ja klar.

Wie viele andere Männer ist auch meiner der Meinung, daß es eigentlich seiner unwürdig sei, ausgerechnet in einem USA-Urlaub irgendwas unter 300 PS geschweige denn einen Kompaktklassewagen zu fahren. Aber der Toyota iA erweist sich tatsächlich als Packesel, für den verhältnismäßig kleinen Wagen ist der Kofferraum erstaunlich geräumig und wir bekommen unsere Koffer und sämtliche Walmart-Neuanschaffungen problemlos hinein.

Im Chaos des Auszuges ist zwar meine brandneue Speicherkarte im Lexington zurückgeblieben, aber da noch kein Foto darauf war, ist der Verlust zu verschmerzen und außerdem habe ich das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bemerkt. Also fahren wir gut gelaunt los. Weil wir ein bißchen Landschaft gucken wollen, vermeiden wir den Turnpike und fahren durch Miami Downtown und seine schönen Alleen hinaus aufs Land.



Eine erste Pause gibt’s in Homestead, wo wir einen Burger essen, dann geht’s weiter hinaus auf die Keys.

Durch die vielen Ampeln zwischen Miami und Homestead kommt der Verkehr nicht so richtig in Fluß, aber auf dem Overseas Highway merkt man wieder deutlich, daß das Fahrverhalten der Amerikaner sich verändert hat. Obwohl wir immer am oberen Limit fahren, werden wir ständig überholt, auch im Überholverbot, wer nicht überholt, fährt dicht auf und drängelt. Geschwindigkeitsbegrenzungen scheinen keinen großen Geist mehr zu scheren, auch wird auf Schildern und unter Androhung einer über 100 Dollar hohen Fine auf das Rechtsfahrgebot für langsamere Fahrzeuge hingewiesen. Wir gucken erstaunt. Ich verstehe nicht so ganz, wie man auf manchen Strecken ein Rechtsfahrgebot vorschreiben kann, wenn die Gestaltung der Highways darauf ausgerichtet ist, daß es bislang so etwas nicht gab und sich auf den Mittelstreifen immer wieder Ladenzeilen, ganze Wohnblöcke und anderes befinden. Wie soll man die denn erreichen, ohne zuvor auf der linken Spur vor dem Ausfahren entsprechend abzubremsen? Wenn dies aber gleichzeitig die Spur für die schnelleren Fahrzeuge sein soll, paßt für mein Verständnis da etwas nicht zusammen, und es ist vorprogrammiert, daß man sich gegenseitig behindert.

Eine solche Stelle ist zum Beispiel das Shell World auf Key Largo. Die Einfahrt zu dem Souvenirshop liegt ein bißchen versteckt auf dem Median, wenn man es weiß, erkennt man das rosagrüne Schild aber bereits von weitem.

https://www.miami.com/things-to-do-in-miami/stop-driving-past-shell-world-in-the-florida-keys-its-a-national-treasure-192544/

Hier haben wir beim letzten Besuch ein paar schöne Erinnerungsstücke gekauft und wollen mal wieder gucken. Das Ausfahren gelingt auch ohne angehupt zu werden, und wir stöbern ein bißchen im Laden herum. Schöne Sachen haben sie hier, auch wenn die vielen Muscheln und Sanddollars sicher nicht aus Florida stammen, sondern vermutlich eher von den Philippinen oder was weiß ich woher. Insgesamt sind die Souvenirs aber der gehobenen Kategorie zuzurechnen, wenig Plastik, aber die Preise sind auch entsprechend und die gleiche Begeisterung wie beim ersten Besuch, als ich den Laden hätte halb leerkaufen mögen, stellt sich diesmal nicht wieder ein. Was ja auch seine Vorteile hat.

Wir sind ziemlich gut in der Zeit und beschließen einen kleinen Abstecher in den Pennekamp State Park und einen Spaziergang durch die Mangroven zu machen. Vielleicht haben wir Glück und sehen ein verspätetes Manatee oder einen kleinen Hai. Aber wir haben Pech und sehen gar nichts, denn der Mangroven-Boardwalk ist nach den Schäden durch Irma 2017 immer noch geschlossen. Nun kosten die State Parks ja immer einen kleinen Obolus Eintritt und wo wir jetzt schon einmal da sind, wäre es blöd, einfach wieder zurück auf den Highway zu fahren, so daß wir zumindest einen kleinen Rundweg durch den Wald gehen.

Eingehüllt von den fremdartigen Gerüchen der permanent ablaufenden Fäulnisprozesse des Subtropenwaldes, die sich von denen eines deutschen Frühlingswaldes ja doch ein bißchen unterscheiden, ist es, als wäre mein letzter Tag auf La Digue im Witwenreservat gerade erst gestern gewesen, es ist ein richtiger Erinnerungsflash. Herrlich, jetzt fehlt nur noch ein offenes Laubfeuer und ein Schluck Rum.

Während wir langsam herumgehen, kommt die Sonne heraus und mit ihr die kleinen Rotkehl-Anolis. Wir halten uns eine ganze Weile hier auf, da die Tiere zunehmend die Scheu verlieren und sich immer besser fotografieren lassen.











Danach geht es zurück auf den Overseas Highway, an dem entlang sich die größeren Keys wie Perlen an einer Schnur aufreihen. Parallel dazu verläuft die alte Trasse der Florida East Coast Railway, die seit 1935 nicht mehr in Betrieb ist und langsam von der Natur erobert wird. Auf der 7 Mile-Bridge der unverwüstliche Fred mit Fred junior, zwei Kasuarinen, die sich insbesondere nach den Verwüstungen, die Hurrican Irma 2017 hinterlassen hat, zu einem kleinen Nationalsymbol der Keys ausgewachsen haben und vermutlich einer steilen Karriere als öffentliche Weihnachtsbäume entgegengehen. Aus „Guck mal, da wächst was!“, wie wir vor 5 Jahren im Vorbeifahren noch ausgerufen haben, ist inzwischen ein Baum mit Namen und Fanpost geworden. Wer Fred schreiben möchte, er hat eine eigene Facebookseite. Wie ich gelesen habe, antwortet er sogar:

https://www.facebook.com/FredtheTree1/



 

Schnuffel32

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Wow, das ist ja ein super toller informativer Reisebericht. Hab ganz lieben Dank für diese Mühe (y)
 

oese

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Angenehmer Schreibstil und tolle Fotos, da macht das Mitlesen Spaß. Und der Abstecher nach Georgia interessiert uns sehr, bin gespannt....


Torsten
 

Schusseli

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Schöner Bericht und tolle Bilder... ich lese weiter und warte gespannt auf die Fortsetzung

LG
 

gumpi67

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Auch wenn euer Auto klein ist, steig ich noch ein bei euch. Dein Bericht ist abseits der "08/15"-Reiseberichte und auch für einen Mehrfachtäter wie mich sind schon im ersten Beitrag ein paar Ecken in Miami dabei, die ich noch nicht gesehen habe.


Ich habe das Gefühl, dass ich hier noch einige Anregungen für unseren Urlaub im nächsten Jahr finden werde.(y)
 

GutesA

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Ich möchte auch noch mit, bitte n bissl zusammen rutschen!

Auch wenn ich die Entscheidung zu einem yaris in den USA, vor allem wenn man 5000 km zurücklegen möchte, wirklich nicht nachvollziehen kann.

Ich wusste nicht mal, dass es die da überholt gibt.

Wird einem da nicht komisch, zwischen den RAMs und Tahoe’s?
:giggle:

Liebe Grüße,
Anja
 

Ehemann

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Welches Gerät verwendest du ?

Es freut mich sehr, daß Euch die Bilder gefallen!


Die Kamera ist eine Sony A99V und auf dieser Reise habe ich das Zeiss SAL2470 und das SAL70400G2 verwendet, letzteres für alle Tierportraits, die neben Kultur und Historie einen Schwerpunkt in diesem Reisebericht bilden. Rohdaten bearbeite ich in LR5.7. Ich betrachte Florida schon immer als Paradies für Naturfotografie und schätze es, auch abgelegenes und wildes Terrain in diesem Land so unkompliziert bereisen und erwandern zu können. Für weitere Fragen zur Fotografie in Florida stünde ich bei entsprechendem Interesse, soweit ich es vermag, sehr gerne zur Verfügung.
 

Ehemann

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Auch wenn ich die Entscheidung zu einem yaris in den USA, vor allem wenn man 5000 km zurücklegen möchte, wirklich nicht nachvollziehen kann.

Da hast Du einen wunden Punkt bei mir getroffen... ;)

Die Kiste war das Grauen! Normalerweise gönne ich mir drüben einen Lincoln oder Cadillac, aber seit fast alle Vermieter in der gehobenen Kategorie nur noch SUVs anbieten, die ich nicht so mag, hab ich ein Problem. Ein Mittelklasse-Auto ist dann meist unverhältnismäßig teuer und so sollte es diesmal einfach nur günstig sein. Ohne eigene Tauchausrüstung war das Compact Car zwar gerade ausreichend, denn wir hatten sonst nicht viel Gepäck dabei, aber genervt hat der Toyota trotzdem ohne Ende. Dem Zeitgeist entsprechend mit jeder Menge unsinniger Elektronik und dämlichen Bevormundungsfunktionen ausgestattet, war das Auto schon sehr anstrengend. :tired:
 
OP
Suse65

Suse65

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Vielen Dank für die netten Rückmeldungen. Der Verfasser der Bilder hat sich ja selbst angemeldet (bei der Vergabe seines Usernamens war er jetzt weniger kreativ als beim Fotografieren ;)) und kann Euch da besser Auskunft geben als ich.

Das Auto fand ich persönlich überhaupt nicht schlecht, ich bin den Yaris gern gefahren. Platz genug gabs auch und mit mehr PS hätten wir sowieso nix anfangen können. :-D Aber es stimmt, es gab Situationen, da kamen wir uns doch recht klein vor, vor allem auf den Interstates zwischen den Trucks.
 

panman47

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Hallo Suse,

dein Bericht ist einfach nur toll. Die Bilder super gut. Ich bin begeistert.(y) Ich reise gerne mit euch. Danke für den schönen Bericht.

LG
Dagmar :sun:
 
OP
Suse65

Suse65

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Key West

Wir kommen ohne Stau nach Key West hinein und suchen unser Motel in einer Seitenstraße. In der hereinbrechenden Dämmerung passieren wir die kleinen karibisch anmutenden Holzhäuser mit ihren üppig bewachsenen Veranden und Zäunen. Key West hatte mein Herz bereits auf der ersten Floridareise im Handumdrehen erobert. Nicht nur die Häuser, es war eher die gesamte Atmosphäre, die ihr Althippieflair und ihren dörflichen Charakter bei allen Touristenmassen, die sich durch die schmalen Straßen wälzen, nie zu verlieren scheint. Wo sonst hat man jemals gesehen, daß ein Hausbesitzer ein einem tiefhängenden Ast vor seiner Gartenpforte ein Kissen umbindet, damit spätheimkehrende Partypeople sich nicht den Kopf stoßen.









Unsere Unterkunft ist das El Patio http://www.elpatiomotel.com/ und gefällt uns auf Anhieb. Das sollte es besser auch, denn es war nicht gerade günstig. In der Fassade finden sich die Stilelemente der Art Déco Gebäude des Ocean Drive wieder, der Patio, von dem es seinen Namen hat, ist üppig bepflanzt. Der Pool ist klein, aber den nutzen wir während unseres Aufenthaltes sowieso nicht.







Der ältere Herr an der Rezeption, der aussieht wie ein wachechter „Conch“, gibt uns ein Zimmer im Erdgeschoss. Das Zimmer ist von innen passend zum Stil des Hauses plüschig-tropisch eingerichtet mit Rattanbetten und bonbonfarben geblümten Überdecken. Was leider fehlt, ist eine Kaffeemaschine, mit der man sich mangels Frühstücksangebot bei Tagesanbruch wenigstens selbst den notwendigen Treibstoff zubereiten könnte. Somit endet der Tag, wie wir es aus Miami gewöhnt sind, mit einem Besuch im Supermarkt. Einen Walmart gibt es hier nicht, aber einen Publix und einen K-Mart, so daß es an Frühstückszutaten keinen Mangel hat. Wir decken uns mit Gebäckteilchen, Saft und Eiskaffee ein, dazu ein paar Breezer mit tropischen Geschmacksrichtungen, mit denen wir den Abend dann auch ausklingen lassen.

Untermalt vom Krähen der Key West’schen Hähne nuckeln wir an unseren Cocktails. Mein Mann zieht sich, draußen in seinem limettenfarbigen Klappstuhl rauchend, den Unmut des ortsansässigen Chef-Anolis zu,





der ihn aus der Farnrabatte mißtrauisch beäugt, während ich, angefixt von der Fahrt durch die Washington Street, das stabile W-Lan nutze und direkt mal die Immobilienangebote von Key West studiere. Hier zu leben, das wäre ein Traum. Aber es wird wohl einer bleiben, denn es ist nichts dabei, das zu unserem Ge…schmack passen würde. Hüstel.

Am nächsten Morgen hat sich der Wind, der auf der Fahrt von Miami hierher bereits stark nachgelassen hat, vollständig gelegt und es ist sehr heiß. Bei unserem letzten Besuch in Key West haben wir in einem Motel ganz in der Nähe gewohnt, aber der Marsch vom El Patio bis an den Hafen zieht sich weit mehr, als wir das in Erinnerung hatten. Die Simonton Street kommt uns endlos vor, und obwohl wir oft stehenbleiben, die Häuser bewundern oder mit Bedauern die Schäden betrachten, die Irma 2017 hinterlassen hat, geht uns das Latschen in der Hitze ziemlich bald auf den Keks.

Irgendwann sind wir am Hafen angekommen und der erste Weg führt uns direkt zum Tickethäuschen des Dry Tortugas Nationalparks. Die Dry Tortugas, so genannt, weil es auf ihnen kein Süßwasser gibt, sind eine kleine Inselgruppe einige Meilen vor Key West, und das auf einer dieser Inseln errichtete Fort aus Bürgerkriegszeiten ist einer der Lieblingsplätze meines Mannes mit für ihn unendlichen Fotomotiven.

http://www.drytortugasinfo.com/?gclid=EAIaIQobChMI_s3btu7Q2wIVwRUYCh2J_gy1EAAYASAAEgJHFfD_BwE

Was mich betrifft, ist meine Begeisterung für das Gebäude nicht ganz so groß wie seine; es ist imposant und als historisches Denkmal natürlich interessant. Es lohnt sich, es mindestens einmal zu besuchen und auch eine Führung zu buchen. Als noch viel spannender empfand ich jedoch die ungefähr zweieinhalbstündige Fahrt mit der Fähre mit dem passenden Namen Yankee Freedom, von der aus ich so ziemlich alles gesehen habe, was es in den flachen Wassern der Karibischen See so zu sehen gibt, Delphine, Haie und wunderschön leuchtende rote Karettschildkröten. Ganz nebenbei kann man sich mit amerikanischer Haute Cuisine wie Toast mit köstlicher Erdnussbutter und Gelee vollstopfen, so daß ich nach etwas Überlegung doch noch mal für einen weiteren Ausflug zum Fort zu überreden war. Der Spaß ist nämlich nicht ganz billig, aber das muß uns letztlich nicht kümmern, denn wie wir erfahren, sind sämtliche Fähren für alle 5 Tage, an denen wir in Key West sein werden, ausgebucht. Die einzige Chance, so sagt die Dame am Schalter, sei es, wenn jemand sein Ticket storniere, so daß wir entscheiden, uns heute am Hafen aufzuhalten und regelmäßig nachzufragen.

Ein bißchen frustriert stapfen wir von dannen und hoffen, daß wenigstens unsere zweite Unternehmung klappen wird, bei der wir auf freie Plätze angewiesen sind. Einen Sunset-Sail mit der America 2.0.

http://www.sail-keywest.com/browse-by-theme/sunset-sails-cruises/

Hier im Hafen von Key West liegen viele große und auch schöne Schiffe, aber dieses sticht heraus mit seiner klassischen Eleganz. Auch wenn es natürlich ein Nachbau der echten America ist. Am Steg ist ein kleiner Tresen aufgebaut, dahinter ein seemännisch aussehender älterer Herr, der gerade auf seinem Laptop irgendein Jahrzehnte altes Formel 1-Video guckt.








Wir haben Glück, es sind jede Menge Plätze frei auf der America, die Wetteraussichten für eine Fahrt in den Sonnenuntergang mit kleinen Hors d’Oeuvres sind sehr gut. Natürlich hat dies dann nichts mit richtigem Segeln auf einem Rennboot zu tun, aber das ist ja auch gar nicht der Sinn der Sache, man kann ja kaum Häppchen essen und ein Schampusglas in der Hand halten, wenn das Boot mit Schlagseite in der Dünung krängt, oder wie man das nennt.

Unser Kartenverkäufer ist entzückt, daß wir aus Deutschland sind. Einmal auf dem Nürburgring fahren, das sei sein Traum. Ich persönlich finde Formel 1 ja noch mehr gähn als Fußball, auch Ayrton Senna und seine außergewöhnliche Karriere sind an mir komplett vorbeigegangen, aber mein Mann und er haben jede Menge Gesprächsstoff. Wir bekommen dann auch einen kurzen Exklusivblick auf das Schiff sowie ein paar technische Erläuterungen gewährt, betreten dürfen wir es aber aus versicherungstechnischen Gründen vorab nicht. Mit unseren Tickets für den heutigen Abend, wandern wir zurück zum Fort Jefferson-Schalter, aber bislang hat niemand die Lust auf einen Ausflug zum Fort verloren, keine freien Plätze.

Hier, im hinteren Bereich des Hafens, liegen nur noch wenige größere Schiffe, die meisten sind kleinere Boote, die ihre Ausbeute der morgendlichen Ausfahrt im Hafen ausnehmen und in die Kraals werfen. Die Kraals, ein Relikt aus den Zeiten des industriellen Schildkrötenfangs, dienten früher dazu, die Schildkröten bis zum Abtransport lebend zu verwahren, und bilden heute den historischen Mittelpunkt des Hafens von Key West. Um sie herum haben sich einige Einrichtungen etabliert, die Schildkröten im weitesten Sinne zum Thema haben, vor allem das Turtle Cannery Museum.

https://www.keywestturtlemuseum.org/





Das Turtle Museum, früher eine Privatinitative, gehört heute zur immer größer werdenden Gruppe der von Mel Fishers Nachkommen betriebenen Einrichtungen, ist aber immer noch kostenlos zu besuchen, lebt von Spenden, dient vor allem wohltätigen, der Sache der Schildkröten dienenden Zwecken und arbeitet eng mit dem Turtle Hospital auf Marathon Key zusammen.

Drinnen gibt es unregelmäßige Erläuterungen, die an keinen bestimmten Zeitplan gebunden zu sein scheinen, sondern immer dann stattfinden, wenn sich genügend Besucher gleichzeitig aufhalten, der aufsichthabende Conch Lust hat oder ihm entsprechendes Interesse signalisiert wird. Was man zu hören und zu sehen bekommt, ist allerdings nicht nur schön, denn der Fang und die Verarbeitung der Schildkröten zu Suppe und zu Dosenfleisch wurde hier in Key West bis in die siebziger Jahre hinein betrieben und es gibt einiges an drastischen Bildern. Ich habe selbst als Kind noch Schildkrötensuppe gegessen, sie galt als Delikatesse und wurde von meiner Großmutter zu besonderen Anlässen auf den Tisch gebracht. Sie war nicht einmal besonders lecker, eher sehr salzig.






Draußen in den Kraals haben die Fischabfälle inzwischen jede Menge Zuschauer angelockt, denn im Becken streiten sich zwei Ammenhaie und mehrere Tarpune um die Reste. Wobei die Tarpune noch deutlich größer sind als die zwei wohl noch nicht ganz ausgewachsenen Haie.









Während der Mann die Kamera auspackt, pflanze ich mich im Halbschatten auf die Bank vor dem Turtle Museum und beobachte das Treiben. Neben mir auf der Bank schläft ein hagerer Mann unbestimmbaren Alters, der trotz der braun gebrannten Haut aussieht, als hätte er eine harte Nacht hinter sich. Alle paar Minuten kommen ähnlich verwitterte Althippies vorbei, wobei vor allem die weiblichen seltsam alterslos wirken, die sich fürsorglich über ihn beugen. Fragen nach seinem Befinden und ob alles ok sei, beantwortet er halb amüsiert, halb mürrisch, um danach sofort weiterzuschlafen. Man kennt sich und man kümmert sich um einander. Hier länger zu sitzen und einfach nur zu beobachten, das ist, als ob man ein Wimmelbild betrachtet und sich nach und nach die liebevollen kleinen Details erschließen. Zwischen all den Touristen lebt die Conch Republic, die Gemeinschaft jener Menschen, die Key West genau zu dem machen, was es ist. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, auch hier zu leben. Bislang hat mir noch kein Ort in Florida so gut gefallen wie Key West. Im Laufe dieser Reise wird es allerdings noch ernsthafte Konkurrenz bekommen.

Nachdem auch eine weitere Nachfrage beim Fort Jefferson-Schalter erfolglos bleibt, geben wir die Sache auf. Da wir also keine aktuellen Bilder zeigen können, hier mal ein paar von der letzten Reise zur Illustration.
















Fort Jefferson hat gleich nebenan sogar sein eigenes Bird Island mit 100.000 Rußseeschwalben und ca. 300 weiteren Vogelarten.









Und das eine oder andere Bild von dort hätte so oder so ähnlich auch auf den Seychellen entstehen können. ;)




Wir trösten uns ein paar Meter weiter im Turtle Kraals. Was nicht bedeutet, daß wir zu Tarpunen und Haien ins Wasser gesprungen wären, sondern ein Besuch in der gleichnamigen Bar.

https://www.turtlekraals.com/







Das Turtle Kraals ist vor allem für Menschen mit einer Leidenschaft für Schildkröten einen Besuch wert. Das liegt unter anderem an den zweimal wöchentlich stattfindenden „Schildkrötenrennen“. Bevor jetzt jemand einen Herzinfarkt bekommt: Keine Sorge, es ist ganz harmlos. Die Schildkröten, die dort „rennen“, sind, anders als auf der Webseite des Restaurants abgebildet, keine Wasserschildkröten, sondern Landschildkröten, und die Rennstrecke höchstens 3 Meter lang und nach ein paar Minuten vorbei. Keines der Tiere wurde bei den Rennen, die ich gesehen habe, in irgendeiner Form gepiesackt, wer nicht läuft, läuft eben nicht. Restaurantgäste bekommen kostenlose Wettscheine, hat die eigene Schildkröte gewonnen, bekommt man die Chance, mit einem Schlüssel der Wahl ein Schließfach aufzuschließen und mit etwas Glück ist ein kleiner oder auch größerer Jackpot darin. Der Schließfachteil ist der eigentliche Spaß und dauert deutlich länger als das Rennen selbst. Feiern könnte man seinen Gewinn dann mit einem Mojito oder anderem Cocktail, denn diese werden mit Naked Turtle Rum gemixt, einem Produkt der British Virgin Islands.

https://www.nakedturtle.com/


Ganz abgesehen von der Affinität zu Schildkröten schmeckt das Zeug einfach nur gut. Auf der letzten Reise führte der Versuch, eine Flasche davon mit nach Deutschland zu nehmen, zu einer peinlichen Situation in einem Liquor Store, in dem der Verkäufer auf meine Frage (vermutlich aufgrund des Wortes naked) recht brüsk antwortet, so etwas führe er nicht, ich solle mal im nächsten Table Dance Laden fragen. Der Kellner heute behauptet aber zu wissen, wo man den Rum in den USA beziehen kann, im Publix nämlich. Unfaßbar, sollten wir diesmal wirklich zu unserem eigenen Naked Turtle Rum kommen?

Für den Abend ist das Getränk der Wahl aber erstmal Rotwein auf der America 2.0. Am Anleger stellt sich bald heraus, daß das Schiff ausgebucht sein wird, es sind doch so einige, die „See you at sunset“ mal nicht am Mallory Square erleben wollen. Wir sind jedoch früh genug da und können uns an Bord noch Plätze aussuchen. Die Crew besteht fast ausschließlich aus ungeheuer fit aussehenden Frauen, die als Mädchen für alles nicht nur die Segel setzen und das Schiff steuern, sondern auch die Getränke ausschenken und Schalen mit Häppchen herumreichen. Die Gemüseteilchen stammen eindeutig aus dem Kühlregal des Publix und sind, wie man es in den USA gern hat, so super gekühlt, daß man Zahnschmerzen bekommt. Die Getränkeauswahl ist vollkommen ok, alle möglichen Softdrinks und Wasser, verschiedene Biersorten, Rot- und Weißwein und natürlich „Bubbly“. Wir halten uns an Rotwein, Shrimps und Käsecracker, während wir vor der Küste von Key West hin- und herkreuzen.









Wir haben das Glück, einen wolkenlosen Abend erwischt zu haben, an dem sich einer der berühmten Sonnenuntergänge von Key West in voller Pracht entfaltet. Es ist aber davon abgesehen auch interessant, Key West einmal von dieser Seite zu erleben. Nach Irma und den Zerstörungen, die sie hinterlassen hat, haben manche Conchs ihre Häuser nicht wieder aufgebaut, sondern sind auf ihre Hausboote gezogen, die wir jetzt aus der Nähe betrachten können.

Als wir in den Hafen zurückkehren, ist es bereits dunkel geworden und der erleuchtete Hafen voller feiernder Menschen. Wieder an Land schwankt der Boardwalk unter meinen Füßen ein bißchen, ob das nun vom Rotwein oder vom Seegang kommt, wer weiß. Die Fahrt war sehr stimmungsvoll.




Am nächsten Morgen wird unsere Unternehmungslust ganz gewaltig von der Vorstellung gebremst, schon wieder die scheinbar endlose Simonton Street entlangtapern zu müssen. Der Fußmarsch in der Hitze ist schon irgendwie nervig, außerdem war einer meiner Rotweine wohl nicht mehr ganz gut.

Also drücken wir uns und fahren faul mit dem Auto Richtung Shopping Plaza. Im Publix kein Schildkrötenrum, hätte uns auch gewundert, wo es doch hier im Supermarkt nie Hochprozentiges zu kaufen gibt. Der Kellner gestern im Turtle Kraals hat mich sicher falsch verstanden, vielleicht hat er gemeint, ich wolle wissen, wo die Limetten für den Mojito herstammen, war doch klar, daß es wieder nichts wird mit dem Rum. Etwas mißgelaunt rollen wir vom Parkplatz direkt am Publix Liquor Store vorbei, dessen Eingang ein wenig hinter Bäumen versteckt liegt. Eine Vollbremsung später haben wir zwei Flaschen Naked Turtle Rum erstanden und fahren vergnügt zum Motel zurück. Eine einfache Lösung für das Fußwegproblem ist uns inzwischen auch eingefallen. Das El Patio verleiht Fahrräder!





Mit neu gewonnener Mobilität geht es los, an der Southernmost Boje (nur noch 90 Meilen bis Kuba!) vorbei, vor der die Schlange derer die sich hier fotografieren lassen oder ein Selfie machen wollen, länger ist als vor Mustafas Gemüsedöner in Kreuzberg. Dann die White Street hinauf an Hemingways Haus mit seinen sechszehigen Katzen vorbei zum Mile Marker 0. Kurz dahinter unser eigentliches Ziel: Das Audubon House.

http://audubonhouse.com/

Wie das mit solchen Häusern oft so ist: Audubon selbst hat hier nie gelebt, er ist hier überhaupt nie gewesen. Das Haus, ein ehemaliges Kapitänshaus, wurde später von einer Stiftung gekauft und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Daß es als Audubon House bezeichnet wird, ist nach meinem Verständnis vor allem damit zu erklären, daß in der dazugehörigen Galerie vor allem Replikationen der Audubon Plates, seiner ornithologischen Zeichnungen, und andere Souvenirartikel verkauft werden.







In dem gepflegten tropischen Garten viele Orchideen, Farne, ein Koi-Teich und dazwischen die überall in Key West frei laufenden Hühner. Außerdem ein Küchenhaus, in dem anschaulich dargestellt wird, was eine wohlhabende Familie im Florida des 19. Jahrhunderts so aß. Dazu gehörten natürlich die unvermeidlichen Schildkröten, aber auch Flamingozungen, die als Delikatesse galten.






Erst die kleine, sich anschließende Galerie beschäftigt sich dann tatsächlich mit Audubon selbst, der, wie ich überrascht gelesen habe, gar kein US-Amerikaner war. So, wie er auf Abbildungen dargestellt wird, mit langem Haar und in Trapperkleidung, habe ich ihn mir immer vorgestellt wie Fenimores Lederstrumpf, aber tatsächlich war Audubon ein in Haiti geborener Créole mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Familiengeschichte und ebensolchem Lebenslauf, der erst nach einigen Umwegen in Nordamerika landete und zum wohl bedeutendsten Ornithologen seiner Zeit wurde.

Meiner heimischen kleinen Galerie auf Reisen gesammelter Bilder würde ich eigentlich gern einen Audubon-Druck hinzufügen. Als für eine Florida-Reise typisches Motiv habe ich mir einen Schlangenhalsvogel, einen Anhinga, ausgesucht. Als ich entdecke, daß es keine einheitlichen Preise für die Bilder gibt, sondern diese für jeden Vogel unterschiedlich ausfallen, bin ich noch guter Dinge, der Anhinga ist ja nun nicht der attraktivste und somit sicher nicht der begehrteste Vogel. Da sollte ich mich aber schwer getäuscht haben, gerade dieses Motiv ist eines der teuersten, für einen ungerahmten Druck möchte man hier über 1.200 Dollar haben. Die habe ich jetzt gerade nicht passend, zu schade. Mal ehrlich, diese Preise sind doch bekloppt, Audubon hin oder her.


Wir radeln weiter, ein bißchen die Duval Street hinunter, ein bißchen kreuz und ein bißchen quer zum Friedhof, die Urnengräber mit den lustigen Inschriften suchen.






Es ist gerade mittags und die Sonne scheint senkrecht vom Himmel, auf dem Friedhof ist kein Mensch außer uns, gelegentlich rollt ein Auto langsam durch die breiten Straßen zwischen den Mausoleen. Viele der Gräber wirken verfallen, die Steinplatten zerbrochen und zersplittert. Wir marschieren los, die Urnengräber suchend, als vor uns der erste Leguan den Weg überquert und zwischen den Grabplatten verschwindet.





Daß die Tiere, die hier eigentlich nicht endemisch, sondern die Nachkommen ausgebüxter Haustiere sind, sich inzwischen zu einer regelrechten Landplage, die auch eine zunehmende Bedrohung für die heimische Fauna darstellt, ausgewachsen haben, ist uns noch gar nicht so richtig bewußt, als wir diesen ersten Leguan sehen. Die Tiere sind sehr scheu und erst, als wir uns entsprechend ruhig verhalten und eine Zeitlang kein Auto durchgefahren ist, kommen sie plötzlich überall heraus. Sie leben unter den Grabsteinen und ziehen sich dorthin auch sofort zurück, wenn man ihnen zu nahe kommt.











Sie werden, so lesen wir später nach, inzwischen gejagt und auch gegessen, es gibt mehrere Kochbücher über die Zubereitung von Leguan. Es ist verständlich und sicher auch notwendig, denn die Tiere belasten nicht nur die Umwelt, sondern auch die Menschen, in deren Nähe sie leben. Leguane sind intelligent und dringen in Häuser ein, plündern Gärten und verursachen Unfälle. Aber es ist schade, denn die Tiere sind wunderschön und wirken hier auf den Grabsteinen, wenn sie zum Sonnenbaden verharren, noch urzeitlicher, als seien sie Teil der Grabgestaltung und gehörten doch eigentlich irgendwie hier her. Wir sind fasziniert und beobachten und fotografieren sie eine ganze Weile. Die berühmten lustigen Urnengräber haben wir über diesem bizarren Erlebnis vollständig vergessen. Während ich unter einer Palme im Schatten sitze, sehe ich sogar noch einen Anolis, ich hätte gedacht, daß diese Tiere im Lebensraum der Leguane keine Chance mehr haben.









Mit dem Anolis in unserem Vorgarten pflegt mein Mann inzwischen eine feste Freundschaft, aus Sicht des Anolis könnte es sich allerdings auch um Feindschaft handeln, denn das mutige kleine Kerlchen droht ihm kopfnickend und mit aufgestelltem rotem Kehllappen, als wäre er nicht nur einen winzigen Bruchteil so groß wie der Mensch in seinem grünen Klappstuhl.

Auch am nächsten Tag machen wir uns auf die Suche nach kleinen Tieren, denn ich will unbedingt das Key Deer sehen, die kleinen Rehe von Big Pine Key. Es handelt sich um Weißwedelhirsche, aber wesentlich kleinere Ausgaben als ihre großen Verwandten weiter oben im Norden. Ob die geringe Größe am begrenzten Lebensraum auf den Keys liegt, oder ob sie einfach entsprechend der Bergmann’schen Regel kleiner sind, weil sie deutlich weiter im Süden vorkommen, weiß ich auch nicht, aber sie sollen wirklich winzig sein und nicht schwer zu finden.





Das Key Deer Infocenter auf Big Pine Key hat heute wieder geschlossen, genau wie beim letzten Mal, es ist nämlich Sonntag. So müssen wir mit den Informationen auskommen, die ich bei den Reisevorbereitungen zusammengetragen habe, und fahren auf gut Glück los. Prompt landen wir in einer dicht besiedelten Sackgasse, in der wir sicher nicht die ersten verirrten Touristen sind, denn ein unfreundliches Schild warnt Trespassers vorm Weiterfahren, -radeln oder -gehen. Wo wir falsch abgebogen sind, ist uns nicht klar, so fahren wir nochmals zum Ausgangspunkt am Abzweig vom Overseas Highway zurück um neu zu starten und uns angesichts der Hitze auch gleichzeitig im dortigen Winn Dixie mit Getränken zu versorgen. Mein Mann unkt inzwischen, diese Rehe seien sicher furchtbar scheu und wir würden sowieso keines sehen. Das erinnert mich an eine Anekdote vor einigen Jahren auf Helgoland, als er auf der zunächst erfolglos verlaufenden Suche nach den Kegelrobben auf der Düne meinte, diese seien wohl sowieso nur eine Legende, woraufhin die Köpfe der Tiere wie auf Kommando überall aus dem Wasser ploppten und entrüstet guckten, als hätten sie ihn gehört. Abergläubisch, wie ich bin, fordere ich ihn auf, auch die Key Deers zu einer Legende zu erklären, vielleicht klappt es auch diesmal, und verschwinde im Winn Dixie, um eine Gallone Eistee zu besorgen.

Es funktioniert. Als ich wieder ins Auto steige, bekomme ich erzählt, ich hätte soeben ein kleines Reh verpaßt, das gerade über den Supermarktplatzplatz gelaufen wäre. Ja, is klar, sage ich, aber tatsächlich, er hat mich nicht veräppelt, das Reh liegt gleich um die Ecke im Schatten vor parkenden Autos und ist überhaupt nicht scheu, wenige Meter steht ein weiteres. Sie sind wirklich klein, wie große Hunde, und sehr süß. Ich mache jede Menge Fotos aus dem Auto heraus, weil wir sie nicht verscheuchen wollen.









Auf Big Pine Key sehen wir zunächst keine weiteren Rehe, dafür halten wir am Blue Hole an, das allerdings kein echtes Blue Hole ist, sondern ein Überrest einer ehemaligen Phosphatgrube. Den Tieren gefällts aber, es gibt mindestens zwei Alligatoren, einer davon ein kapitaler Bursche, der beim Anblick von Menschen auf der Aussichtsplattform direkt herübergeschwommen kommt. Vermutlich staubt der hier öfter mal was ab.





Die meisten Rehe sollen auf No Name Key zu sehen sein, das mit einer Brücke verbunden als Anhängsel an Big Pine Key hängt. Beim zweiten Versuch finden wir den Abzweig jetzt auch auf Anhieb und passieren langsam den No Name Pub, in dem auch ein paar Besucher sitzen. Rehe, die hier häufig die Besucher anbetteln sollen, sind aber keine zu sehen. Auf No Name Key ist es menschenleer, das Key wirkt unbewohnt und sehr einsam, ist es aber nicht.

Meine Erfahrungen mit den USA beschränken sich bis jetzt ja auf Florida und ein kleines Stück von Georgia, insofern kann ich nicht sagen, wie es sich in anderen Staaten, besonders größeren Flächenstaaten verhält, aber hier, so mußte ich schon auf der ersten Reise erstaunt feststellen, kann von der großen Freiheit eigentlich keine Rede sein. Das Land ist ausgesprochen zersiedelt, nicht nur hier auf den Keys, sondern auch später, oben im dünn besiedelten Norden, überall Zäune oder zumindest Hinweisschilder, daß hier Privatgrund und Betreten verboten ist. Wer seine Freizeit in der Natur verbringen möchte und kein eigenes Grundstück hat, ist somit auf die State Parks angewiesen, die ein schier unermeßliches Netz an Wanderwegen und Freizeitangeboten bieten. Aber so, wie ich es aus Deutschland gewöhnt bin, einfach das Auto am Rande eines Feldweges oder in einem Waldweg abzustellen und loszumarschieren, das scheint hier kaum irgendwo möglich. Es mag seine Berechtigung haben, sicherlich wird auf den großen Grundstücken viel gejagt und niemand will Fremde in seinem Revier herumstromern haben, das Jagdrecht ist vermutlich auch lange nicht so streng reglementierend wie in Deutschland. Aber das sind alles Spekulationen und Probleme wollen wir keine haben. Somit fahren wir die quer durch No Name Key führende Straße bis zum Ende, an dem eine Art kleiner Wendehammer vermuten läßt, daß man das Auto hier wohl wird hinstellen dürfen. Der Tip, bis zum Ende der Straße durchzufahren, kam übrigens hier aus dem Forum und war sehr nützlich.

Außer uns noch ein weiteres Auto mit zwei jungen Frauen, die auch auf Rehe aus sind, ansonsten ist hier kein Mensch und es ist sehr still, bis auf das Schrillen der Zikaden.

Es dauert dann auch nicht lange und die Tiere lassen sich blicken. Am Rand der Kiefernwälder stehen sie und äsen. Die männlichen und weiblichen Tiere (man tut sich schwer, die kleinen zierlichen Tiere als Hirsch und Hirschkuh zu bezeichnen), kann man derzeit nicht unterscheiden, da die männlichen das Geweih abgeworfen haben. Aber süß sind sie und längst nicht so zutraulich wie weiter vorn auf Big Pine Key. Sie beobachten uns genau mit ihren großen Augen und riesigen Lauschern und gehen sofort auf Fluchtdistanz, wenn man ihnen beim Fotografieren versehentlich zu nahe kommt.











Nachdem wir einige Fotos gemacht und die Tiere beobachtet haben, würden wir uns gern noch ein bißchen mehr von der Natur auf Name Key anschauen und schlagen einen öffentlichen Wanderweg ein, an dem wir auf dem Hinweg schon vorbeigefahren sind. Die Einsamkeit und Ruhe im Wald zu genießen ist uns jedoch leider nicht vergönnt, denn kaum, daß wir wenige Meter in den Wald hineingegangen sind, stimmen die Mücken zur Begrüßung ein schrilles Freudenkonzert an. Die Bremsen brummen die zweite Stimme dazu, dann fallen sie kollektiv über uns her.





Die Miststücker verfolgen uns bis zurück ins Auto und es gibt allerhand Gehampel und Armgewedel, bis wir sie alle los sind. Und mein schönes Off Deep Woods liegt im El Patio, selbst schuld.

Auf dem Rückweg sehen wir auf Big Pine Key noch mehrere kleine Rehe, die im Schatten von Palmettos liegen oder in Vorgärten äsen. Hier scheinen sie erheblich weniger scheu zu sein, als auf dem einsamen No Name Key.


Der letzte Tag auf Key West vergeht mit einem Streifzug durch die Seitenstraßen, wo die Häuser nicht weniger schön sind als entlang der großen Hauptstraßen. In der Duval Street werde ich in einer Galerie noch fündig und habe am Ende sogar mehrere kleine limitierte Drucke zur Auswahl, von denen sich später mindestens einer an der heimischen Reisebilderwand wiederfinden wird.

Am späten Nachmittag füllen sich auf der Duval Street die Kneipen und Bars, die mit ihren schmiedeeisernen Balkonen an New Orleans erinnern, während in den Seitenstraßen Zigarrendreherinnen kubanisches Ambiente verbreiten. Einheimische mischen sich zwischen die Touristen und Hühner zwischen die Beach Cruiser. Key West ist ein Schmelztiegel und trotzdem ein großes, entspanntes Dorf.









Wir haben am Vorabend noch ernsthaft überlegt, selbst legitime Bürger der Conch Republic zu werden, weil es uns doch so gut gefällt. Aber so einfach ist das gar nicht, weder haben wir Paßbilder dabei, noch die vorab erforderliche Online-Registrierung vorgenommen. Aber irgendwann werden wir noch Conchs werden!

Wer die skurrile Geschichte der Conch Republic, die 1981 den USA den Krieg erklärte, nicht kennt, hier mal der Wikipedia-Artikel dazu,

https://de.wikipedia.org/wiki/Conch_Republic

der schön beleuchtet, daß Key West immer schon anders war, offener, friedfertiger, humorvoller vielleicht als die meisten anderen Orte auf der Welt, die ich bislang besucht habe. Ein Beispiel für diese Andersartigkeit und Toleranz, das mich besonders beeindruckt hat, ist die Geschichte der Henrietta May, einem im frühen 18. Jahrhundert vor Key West gestrandeten Sklavenschiff, und der Art und Weise, wie die Afrikaner in die Gemeinschaft aufgenommen wurden:

https://abcnews.go.com/Travel/story?id=119106&page=1

Der Geschichte der Henrietta May ist ein Teil des Mel Fisher Museums am Mallory Square gewidmet, die Ausstellung enthält noch sehr viel mehr Details der Geschichte und ist sehr berührend.

Ein Stück Key Lime Pie bei Kermits Shoppe rundet das Key West-Programm ab. Kermit selbst steht nicht mehr vor der Tür und bietet seinen Kuchen feil. Beim ersten Besuch empfand ich den Anblick des älteren, gebeugt dastehenden Mannes in seiner Bäckerkluft als so mitleiderregend, daß ich ihm den Kuchen schon allein deshalb abgekauft hätte. Damit wäre ich dann allerdings bloß auf einen genialen Marketingtrick hereingefallen, denn der bedauernswert aussehende Kermit war mit Sicherheit kein armer Mann. Der kleine Laden brummt. Hinten raus hat er einen kleinen üppig begrünten Patio, in dem man nett sitzen, seinen Limettenkuchen verdrücken und dabei das Treiben auf der Straße beobachten kann.

https://www.keylimeshop.com/





Am nächsten Morgen müssen wir leider fort von hier. Im Vorbeifahren winken wir der überdimensionalen Conch vor der örtlichen Highschool zu, und dann geht es auf nach Norden. Schön war es auf den Keys. Fort Jefferson hat nicht geklappt, aber die Fahrt mit der America. Wir haben Deer gesehen und im Koffer zwei Flaschen Naked Turtle Rum! Großartig!


 

MIADolphins

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Sehr schöner Bericht, mir gefällt deine ausführliche Schreibweise und die Bilder sind wirklich traumhaft.
Ich freue mich schon darauf, weiter zu lesen :sun:
 

Skydiver1985

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Wow! Welch ein toller Start in deinen Reisebericht. Du verwöhnst uns mit wundervollen Bildern und einem tollen Text! (y)
Beim Lesen wird mir gerade bewusst, wie viel wir in Key West bei unserem Besuch im Mai doch verpasst haben.:rolleyes:

Ich freue mich schon auf den nächsten Teil...
 
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