Peine Pattensen Paris

Suse65

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Eigentlich wollte ich keinen Reisebericht schreiben, da die Woche, die ich mit meiner Mutter in der Nähe von Paris verbracht habe, mehr so ein Familienurlaub war. Aber dann habe ich doch einen geschrieben, so als Zeitvertreib während des Wartens auf die Grenzöffnung. Vielleicht hat ja noch jemand Lust, sich damit die Zeit zu vertreiben.

Neben den persönlichen Erlebnissen habe ich hoffentlich genügend Informationen über den Wald von Fontainebleau und seine Dörfer eingebaut, um jemanden für die Gegend zu interessieren.

Was mit den Fotos los ist, keine Ahnung, verlinkt habe ich die Bilder in Originalgröße, angezeigt weden trotzdem nur so quasi Thumbnails, muß man bitte draufklicken, wenn es einem so zu klein ist.

Die Erfahrungen sind wie immer nur meine/unsere persönlichen. Vielleicht hat ja jemand bessere Erfahrungen mit dem BER gemacht. Dann gratuliere ich dazu, ich fand es furchtbar, deshalb müßt Ihr durch mein Gezeter auch leider erstmal durch, bevor wir überhaupt in Frankreich ankommen.


Warum der Thread-Titel?
Peine Paris Pattensen ist eine niedersächsische Redewendung, die man gebraucht, wenn jemand sich verlaufen hat, einen unnötigen Umweg macht oder sich sonstwie umständlich anstellt. Bei uns war es der ungefähre Reiseverlauf, ganz ohne Umweg.

Wenn schon die eigentlich anläßlich des 80. Geburtstags meiner Mutter geplante New York-Reise aus den uns alle betreffenden Gründen ausfallen mußte, dann wenigstens Paris, frei nach Udo Jürgens, jetzt, wo wir endlich alle zweimal geimpft sind, doppelt abgesichert mit der deutschen und der französischen Tous anti Covid-App auf unseren Smartphones versehen, und was der moderne Mensch heutzutage sonst so braucht für eine Auslandsreise.

Meine Mutter hat die weitere Anreise, da die Flüge ab Berlin billiger waren und vor allem mit Orly an den richtigen Flughafen führen. Aus der Nähe von Pattensen kommend fährt meine Mutter vermutlich gerade an Peine vorbei, als ich mir verschiedene, farblich zur Reisekleidung passende Masken in die Tasche stopfe, die mir in der kommenden Woche den nötigen Pariser Chic verleihen sollen.

Sparfüchse, die wir sind, haben wir bei Easyjet das mittlere Preisniveau gewählt mit Gepäck bis maximal 15 Kilo. 12 habe ich schon bei Abreise, das wird sich aber ändern, denn der Koffer ist voller Geschenke für Familie und Bekannte. Im Hauptbahnhof sammele ich die Mutter ein, dann suchen wir den Schnellzug, die uns direkt zum BER bringen soll. Der fährt aber nur alle halbe Stunde, also nehmen wir irgendeine der anderen S-Bahnen und treten die Reise durch Brandenburg an.

Man hat, schon allein bis man das Stadtgebiet Berlins verlassen hat, jede Menge Zeit Tegels zu gedenken, dem Flughafen mit den kürzesten Wegen und... ach, ich lasse das mal, das ist der Part vom Ehemann, der mit einer gelungenen Performance schon ganze Zuhörergruppen in Tonga davon überzeugen konnte, daß Tegel der beste Flughafen der Welt ist. Also war. Ich finde den hannoverschen auch ganz gut, aber da ja schon Harald Schmidt der Meinung war, daß Hannover zwar nicht der Arsch der Welt sei, aber ein Ort von dem aus man selbigen schon ganz gut erkennen könne, ist die Flugauswahl gering. Ich nehme Harald Schmidt das übrigens nicht übel, eher bin ich ihm dankbar. Man sieht ja an Berlin, wohin das führt, wenn die halbe Welt eine Stadt für sexy hält.

Ab Schöneweide kommt mir die Strecke bekannt vor. Die bin ich schon mit der Dampflok gefahren, beim Eisenbahnfest. Viel schneller geht es auch jetzt nicht und man hat jede Menge Zeit, die Landschaft zu betrachten. Brandenburg ist schön. Sehr schön sogar, ich liebe den Spreewald und mancherorts ist es ein bißchen wie in der Heide. Den Bewohnern dieses Landstriches wird hingegen eine gewisse Garstigkeit nachgesagt, diesbezüglich herrscht berlinweit sogar Einigkeit, Ost wie West.

Am BER arbeiten weder Brandenburger noch andere Menschen. Selbst ist der Reisende. Keine Ahnung, was meine Mutter hier allein angefangen hätte. Eingecheckt sind wir schon, ohne bereits eine Bordkarte zu haben, kommt man hier nicht mehr weit. Immerhin funktionieren die Geräte, an denen man sich sein Kofferband selbst erstellen muß einigermaßen gut. Problematisch ist das Verschicken des Gepäcks auf den Fließbändern. Der Koffer meiner Mutter fällt ständig um, ich habe mein Kofferband wohl so geklebt, daß es jetzt am Strichcode eine Falte schlägt, jedenfalls haben die Scanner so ihre Probleme. Irgendwann haben wir es raus und damit den um uns herumwuselnden Menschen etwas voraus, die haben nämlich alle auch so ihre Probleme. Da die Gepäckscheine, die das Gerät als Dank ausspuckt, uns als erfolgreiche BER-Mitarbeiter auszeichnen, werden wir sofort um Hilfe ersucht, ein Italiener bittet mich, ihm zu erklären, was die Anzeige "Gewichtsfehler" bedeutet, mit dem das Kofferband auf sein Gepäck reagiert. Wird wohl zu schwer sein, meine ich, haben Sie auch nur 15 Kilo gebucht und jetzt vielleicht 23 eingepackt? Er lacht und hebt den Koffer mit dem kleinen Finger hoch. Der sei leer, meint er. Na, dann wird das wohl der Grund sein.

Wir gucken uns hilflos um, irgendwo muß doch... Da ist sie schon, eine Brandenburgerin nähert sich. Wasn hier los, schnauzt sie und guckt auf das Display. Ich glaub, der Koffer ist zu leicht, wage ich zu bemerken. Sie schnappt sich den Koffer. Kommse mal mit, ich muß das per Hand einchecken. Weg ist der Italiener.

An der Security dann endlich mal Menschen, noch ist die IHK-geprüfte Fachkraft für Flughafensicherheit mit dem Sachkundenachweis § 34a Gewerbeordnung nicht durch Maschinen zu ersetzen. Die Ausbildung beinhaltet meist kein Modul "Servicementalität". Und so geht es hier auch zu. Es ist ein bißchen erschreckend, was es aus manchen Menschen macht, wenn man ihnen eine Phantasieuniform und das Recht gibt, anderen Anweisungen zu erteilen. Das erlebe ich ja nicht zum ersten Mal. Zum Glück sind sie zu uns freundlich, vor allem zu meiner Mutter. Zu ihrem Glück, wohlgemerkt.

Der Flughafen der kurzen Wege ist tot, es lebe der Flughafen des Marathonlaufs. Die Gates, an denen Easyjet abgefertigt wird, sind die letzten im Terminal 1, Billigflieger auf den billigen Plätzen vermutlich. Unterwegs kommen wir an einem Getränkeautomaten vorbei. Da wir davon ausgehen, daß es während des Fluges nichts mehr gibt (was stimmt), versuche ich etwas zu Trinken zu ziehen, und da wir inzwischen ein bißchen in Eile sind nach all dem Theater und Schlangestehen, stecke ich gewohnheitsmäßig ein Geldstück in den vorhandenen Schlitz bevor ich lese, daß dieser Automat nur noch mit Kartenzahlung funktioniert. Falls irgendjemand zwischen Gate 28 und 30 etwas zu trinken kaufen möchte und das nicht mehr geht, das war ich. Falls die 2 Euro irgendwie wieder herauskommen sollten - könnt ihr behalten.

An unserem Gate, dem drittletzten aller vorhandenen Gates, hat sich bereits eine Schlange gebildet, die aus Platzmangel quer über den Flur verläuft verläuft und den Durchgang für die Fluggäste blockiert, die zu den dahinter liegenden Gates streben. Durch das selbe Gate werden auch die aussteigenden Passagiere geschleust, so daß sich in der Mitte eine Art Knoten bildet, in dem sich besonders die Mitarbeiter mit den rollstuhlpflichtigen Passagieren für längere Zeit verstricken.



Wir warten am Rand, zwischen übernächtigten jungen Franzosen, von denen manche aussehen, als hätten sie eine wilde Nacht im Kitkat-Club hinter sich und entsprechend überdreht oder erschöpft sind. Mangels einer ausreichenden Anzahl von Sitzplätzen hocken und kauern überall Menschen auf dem Fußboden. Niemand wollte zu irgendeinem Zeitpunkt unsere Impfnachweise sehen. Wir behalten während des gesamten Fluges mal besser unsere Masken auf.

Die Stewardessen sehen auch ein bißchen abgerockt aus, das scheint auch nicht nur äußerlich so zu sein, denn als wir uns Orly nähern, kündigt eine der Damen, die vermutlich gar nicht mehr genau weiß, wo sie gerade ist, den Anflug auf Mailand an. Ich habe noch nie einen Haufen junger Franzosen so schnell so still werden sehen.

Natürlich war das ein Versprecher und wir landen wie vorgesehen in Orly. In Frankreich ist pandemietechnisch mehr Strenge angesagt, Abholen von Passagieren ist nur außerhalb des Gebäudes erlaubt, so daß unsere Verwandten abgeschnitten von allen Informationen zu Flugverspätungen etc. draußen zwischen den Taxis sitzen. Irgendwie fühlt sich Reisen jetzt anders an, aber das ist jetzt vergessen. Über zwei Jahre haben wir uns nicht gesehen und jetzt sind wir endlich da.
 

Reisezottel

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Da bin ich doch tatsächlich mal die 1.!

Der Anfang liest sich schon mal (y) :cool: sehr lustig. Vielen Dank für's Teilhaben lassen an Eurem Urlaub und ich bin gespannt, wie es weiter geht!
 
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Suse65

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Weil es nur zwei Flüge gab und wir keine Lust hatten morgens um 6 zu fliegen, blieb nur der Abendflug um 18:30 Uhr, so daß es jetzt, inklusive Verspätung schon fast 21 Uhr und dunkel ist.

Gottseidank müssen wir nicht nach Paris hinein, auf der gegenüberliegenden Autobahnseite sehen wir den endlosen Stau. Es ist ungewöhnlich, daß hier schon Stau ist, so weit draußen vor der Stadt. Die Ile de France hat eine lange Schönwetterperiode hinter sich und es scheint so zu bleiben, es ist sehr warm, vermutlich sind das Sonntagsausflügler, die nach Hause fahren.

Das "echte" Paris beginnt ja offiziell ja erst ab dem Périphérique, der Ringstraße, die sich einmal um Paris zieht und die grundsätzlich zu jeder Tages und Nachtzeit an irgendeiner Stelle verstopft ist. Das ist städteplanerisch bedingt, innerhalb des Rings liegen die historisch gewachsenen Quartiers und man hat die Fläche niemals offiziell über den Périphérique hinaus erweitert, auch wenn die "Banlieue", die sogenannte urbane Zone, natürlich nahtlos an das historische Paris herangewachsen ist. Das, was sich offiziell Paris nennen darf, ist winzig, nicht einmal so groß wie Köpenick.
Die Bewohner des Stadtrandgebiets interessiert das wenig, ob jemand aus St. Denis oder Créteil kommt, wird er sich als Pariser betrachten, genauso wie kein Berliner jemals denken würde, daß außerhalb der Ringbahnzone kein echtes Berlin mehr wäre.

Gemeinsam ist jedoch beiden Städten, daß innerhalb der jeweiligen Ringe das Wohnen quasi unbezahlbar ist. Wir werden in dieser Woche noch in einer 60 qm-Neubauwohnung zu Besuch sein, die die Eigentümer 700.000 Euro gekostet hat. Da hat Paris dann gottseidank noch die Nase vorn, in Berlin bekäme man dafür vielleicht noch zwei solcher Wohnungen.

Unsere Verwandten haben schon lange ihr Heil in der Flucht gesucht und sind aufs Land gezogen, weit über die "Zone urbaine" hinaus, in ein kleines Dorf ziemlich genau auf der Grenze der Départements l'Essonne und Seine-et-Marne. Eine wunderschöne kleine Ecke von Frankreich ist das hier und touristisch auch gut erschlossen. Neben einigen weiteren recht interessanten Schlössern wie Vaux le Vicomte, kennt man die Gegend vor allem wegen Fontainebleau. Die meisten ausländischen Touristen belassen es auch dabei, denn in den kleinen Dörfern, die den Wald von Fontainebleau umgeben, sieht und hört man wenig ausländische Stimmen. Dabei lohnt es sich, hier länger zu bleiben, die Gegend ist idyllisch, zwischen Maisfeldern, dem Wald von Fontainebleau, der Seine und ihren verschiedenen Zuflüssen.



Auch das Haus meinter Tante steht am Wasser und abends sitzen wir auf der Terrasse und lauschen den Geräuschen des nahen Teichs. Im Hochsommer kann man manchmal nicht einschlafen, so laut ist das Quaken der Frösche im Teich. Jetzt hört man den nur gelegentlichen Schrei einer Wildgans oder das Springen eines Fisches.



Um Mitternacht haben wir immer noch 21 Grad, sagt das Handy.
Etwas Rhum arrangé sorgt für das Aufkommen von Sehnsucht nach tropischen Inseln und der nötigen Bettschwere. In meine Dachkammer scheint der Mond und gelegentlich dringt der Schrei eines Käuzchens herein. Summertime - Fish are jumping and the Futtermais is high. Herrlich.




Der nächste Morgen beginnt spät, mit hochsommerlichem Wetter und einem Exkurs über Blutwürste.

Das Frühstück fällt französisch karg aus und wir vertrödeln den Vormittag. Zum Mittagessen erwartet uns ein Eintopf aus grünen Bohnen nach original Peiner Rezept. Dazu gibt es Blutwurst, die ich am Vortag eigenhändig aus Berlin herangeschleppt habe. Meine Tante hat sich deutsche Lebensmittel gewünscht, so Sachen, wie man sie in Frankreich wirklich nicht bekommt. Damit auch der Onkel was davon hat, habe ich mich extra aufgemacht nach Neukölln, wo mitten in Klein-Istanbul die Berliner Blutwurstmanufaktur trotzig Schweinefleisch verwurstet und es damit zu Rang und Ansehen gebracht hat. Tatsächlich ist die Fleischerei auf preisgekrönte kreolische Boudins spezialisiert und in Berlin, der Stadt mit dem traditionellen Blut- und Leberwurstgericht, kommt das gut an. Wer als Berliner also einem Seychellenurlaub an der Anse Boudin, der Blutwurstbucht, gedenken möchte, sollte dort einkaufen gehen.


Auch vom kreolischen Onkel werden die Würste als gut befunden. So sitzen wir um den Tisch, schnippeln Boudin in unsere Eintöpfe und planen einen Ausflug nach Samois-sur-Seine, eines der pittoresken Dörfer zwischen der Seine und dem Wald von Fontainebleau. Wir können nicht wissen, daß dies der letzte Moment in trauter Viersamkeit sein wird, denn am Nachmittag beginnt, wenn man das so nennen will, das Stalking.
 
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Suse65

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Der Fairness halber muß man sagen, daß die Dame, von der wir uns den Rest der Woche aufdringlich verfolgt fühlen, mit Sicherheit keine Stalkerin sein möchte. Im Gegenteil, sie meint es nur nett und manchmal ist nett gemeint eben das Gegenteil von nett.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß jemand anhand dieses Reiseberichtes irgendwelche Rückschlüsse ziehen könnte, will ich sie einfach Caroline nennen, was nicht ihr richtiger Name ist. Caroline ist uns auch keine Unbekannte, seit einer Gemeindeveranstaltung vor ein paar Jahren gehört sie zum Freundeskreis von Tante und Onkel. Gefördert wird die Freundschaft durch eine erstaunliche Vorliebe Carolines für alles was deutsch ist. Nun finden ja beileibe nicht alle Franzosen Deutschland automatisch blöd und ziehen über fehlende Kultur und das unschön klingende "Schleu", wie sie unsere Sprache manchmal abfällig nennen, her. Aber eine solch vorbehaltlose, sich in alle Bereiche des Lebens erstreckende Zuneigung zu Deutschland wie sie bei Caroline besteht, habe zumindest ich noch nicht erlebt.

Als uns berichtet wird, daß Caroline uns am Nachmittag nach Samois begleiten und außerdem einen selbstgebackenen Kuchen zum Kaffee beisteuern wird, freuen wir uns. Caroline habe ich als nett in Erinnerung, sie ist nur ein paar Jahre älter als ich und spricht bei aller Liebe zum Land zwar kein Deutsch, dafür aber das präzise Französisch der gebildeten Oberschicht, von dem man jedes Wort mühelos versteht und das einen selbst zu korrektem Gebrauch der französischen Sprache animiert. Es ist nämlich, anders als man denken sollte, keinesfalls unbedingt schwerer, schnell zu plappern, im Gegenteil, damit lassen sich viele grammatikalische Fehler verbergen und der Gebrauch von Platzhaltern wie chose, truc oder machin klingt in einem schnell dahingenuschelten Satz dann auch irgendwie, als sollte das so, während es bei gemächlicher Sprache deutlich verrät, daß einem einfach das Vokabular fehlt.

Das wird eine gute Übung, denke ich, und meinen alten Gripskasten mal wieder ordentlich in Schwung bringen. Außerdem habe ich in weiser Voraussicht ein Geschenk für sie dabei, ein deutsches Kosmetikprodukt, das sie, so verriet sie mir beim letzten Besuch, (natürlich 😉 ) sehr viel besser findet, als die vergleichbaren französischen Produkte. Es herrscht also allseitige Wiedersehensfreude. Und ihre karamelisierte Apfeltarte ist der Knaller.

Hinter dem Haus meiner Tante zieht sich ein alter Treidelpfad am Seineufer entlang. Eigentlich könnte man von hier aus zu Fuß bis nach Samois-sur-Seine durchwandern, aber das ist dann doch viel zu weit.



Zu fünft im Auto ist es ein bißchen eng, aber lustig. Die langen Straßen durch den Wald von Fontainebleau führen vorbei an üppig mit Efeu bewachsenen Bäumen und ganzen Feldern von Adlerfarn. Samois-sur-Seine liegt in der Spätnachmittagssonne wie ausgestorben da. Die traditionelle Architektur der Ile de France ist für die meisten Paris-Besucher wohl gleichzusetzen mit den Häusern des Baron Haussmann, der Paris sein unverwechselbares Gesicht gab und ja ein bißchen sowas wie das französische Gegenstück zur frühen Gründerzeit Deutschlands darstellt. Der eigentliche traditionelle architektonische Stil der Ile de France ist in Wirklichkeit eine seltsame Mischung aus südländisch wirkendem gelben Sandstein oder schlichten weiß verputzten Häusern mit normannischen Elementen wie den massiven Stulpfenstern aus dunklem Eichenholz, die ich wunderschön finde, die aber in der Pflege wohl so aufwändig und teuer sind, daß man sie immer seltener sieht.

Während der Fahrt habe ich keine Fotos gemacht, aber um mal zu zeigen, wie das ausschaut, hier mal ein Bildausschnitt von einem Haus aus der Nachbarschaft:



Wir fahren hinunter zum Seineufer, hier ist nicht nur unser Restaurant für später, hier ist auch die schönste Ecke für einen Spaziergang.



Hier unten gibt es zwei Extreme, wie der das ländliche Idyll suchende Franzose, häufig ein Künstler, wohnen kann. Einzigartig für die Region sind die sogenannten "Affolantes", die "verrückten Villen" am Seineufer, einstmals Sommerhäuser der Industriellen und reichen Künstler. Ihren Namen verdanken die Häuser dem wirren Stilmix, in dem sie errichtet wurden und mit dem die Bauherren sich zu übertreffen suchten. Meist herrscht ein Neo-Normannischer Stil vor mit buntem Fachwerk und vielen kleinteiligen Sprossenfenstern.



Die andere Möglichkeit ist eine Péniche, ein ehemaliger Lastkahn, wie er früher auf dem Treidelpfad von Pferden gezogen wurde. Zu Hausbooten umgebaut liegen sie heute überall im Departement Seine-et-Marne am Ufer.



Manche beherbergen auch Restaurants oder bieten Seine-Fahrten an. Eines, an dem wir vorbeispazieren, möchte 50 Euro für eine eineinhalbstündige Fahrt haben. Soviel kostet ja nicht mal eine Bateau Mouche-Fahrt in Paris, bißchen übertrieben. Schön sind die Boote aber trotzdem, und liebevoll gepflegt und gestaltet.



Auch wenn die Seine ein begradigter Fluß ist, ist das Ufer zumeist von dichtem Bewuchs überhangen und an manchen Stellen entsteht direkt der Eindruck, ein Hausboot in einem Bayou in Louisiana zu betrachten.



Auto paßt auch dazu:



Wir spazieren bis zur Enteninsel, die mit dem Hauptweg durch eine Brücke verbunden ist.



Idyllisch ist es hier und es gibt tatsächlich noch Entenküken. Ich warte jetzt nur noch auf die Boule spielenden Rentner, aber die gibt es nicht, ist hier vermutlich verboten.






Wir essen im Relais de l'Ecluse, der Schleusenstation. Kleines, französisches Restaurant mit nicht sehr umfangreicher Karte, dafür ist alles exzellent und die Lage mit Blick über den Fluß sowieso kaum zu übertreffen. Meine Mutter ist erst etwas mißtrauisch, als mein Onkel ihr marinierte Rinderbäckchen empfiehlt und kriegt sich nachher gar nicht mehr ein, wie gut es war. Wir sitzen recht lange hier, bis wir uns auf den Heimweg machen.



Ich kann verstehen, daß es alle alle großen Namen der Belle Epoque hier hergezogen hat nach Samois-sur-Seine. Renoir, Dégas, Victor Hugo. Ein Name, der eng mit dem Ort verbunden ist, ist mir bisher noch nicht untergekommen, Rosa Bonheur.

Internet sei dank mache ich mich direkt mal schlau und bin erstaunt, daß mir diese Malerin noch nicht aufgefallen ist. Wunderschöne, naturalistische Bilder von Tieren und Landschaften, grandiose Gemälde von Pferden, vor allem älteren, wie ich sie in dieser Form noch nicht gesehen habe. Genau so sehen alte Pferde aus. Eine erstaunliche, früh vom fortschrittlich denkenden Vater geförderte Frau, die sich in der Männerdomäne Malerei durchsetzen konnte. Reisen bildet.


Am interessantesten finde ich jedoch, daß Samois-sur-Seine der Sterbeort von Django Reinhardt war. Das (wenn nicht gerade Pandemie ist) alljährlich stattfindende Jazzfestival trägt dann auch seinen Namen. Hierher kommen alle Größen des Sinti-Swing, in Frankreich Jazz Manouche genannt, wie Stochelo Rosenberg oder Bireli Lagrene. Und weil zufällig genau heute, als ich diesen Bericht schreibe, bekannt wurde, daß wir nächstes Jahr vielleicht doch nach Florida werden reisen und unseren geliebten Suwannee wiedersehen können, gibts jetzt zum Abschied von Samois-sur-Seine mal den Swanee River in der Jazz Manouche-Version:


Zuhause angekommen, wird der bis jetzt entspannte Tag nochmal richtig anstrengend. Wer glaubt, das Kartenspiel Rommé stamme aus Frankreich, hat sich von dem Akzent täuschen lassen, denn "Rommé" sagt einem Franzosen gar nichts. Hier heißt das Spiel Rami und wird mit nur entfernt an die deutschen erinnernden Regeln gespielt. Wo man in Deutschland mit 40 Punkten auslegen darf, sind es hier 51, aber das wäre ja noch nicht das Problem, bloß muß in diesen 51 eine Kartenfolge ohne Joker enthalten sein, die Tiers Franche genannt wird und sowohl meine Mutter, eine gnadenlose Gegnerin, wenn sie sich einmal warmgespielt hat, als auch ich, raffen erstmal null, was ein Tiers Franche ist. Jedesmal, wenn wir auslegen, ist es falsch. Ein bißchen bin ich jetzt froh, daß Caroline uns nach der Rückkehr aus Samois weiterhin Gesellschaft leistet, denn so wird klar, daß das kein sprachliches Problem ist, sie kapiert es nämlich genauso wenig. Nach gefühlten tausend Fehlversuchen haben wir es dann aber raus und das Spiel fängt an Spaß zu machen. Meine Mutter, meine Tante und mein Onkel, die alle ambitioniert spielen, schenken sich nichts, Caroline und ich sind die roten Laternen. Egal, lustig wars. Wir verabschieden uns spät in der Nacht, nett, sie mal wiedergesehen zu haben, bis irgendwann mal wieder, vielleicht ja mal in Berlin. Küßchen links und rechts und Abgang Caroline.

Der nächste Tag bringt eine Wetterverschlechterung, schon im Morgengrauen wache ich von dem Regenrauschen vor dem Dachkammerfenster auf, herrlich, dabei kann man super wieder einschlafen.

Mit dem Tag kann man nicht viel anfangen außer einkaufen, also auf in die großen, gut sortierten Supermärkte. Ein Leclerc ist vom Sortiment her vielleicht mit Edeka zu vergleichen, ein Carrefour mit Real, da gibts auch Möbel und so Kram. So wie die Amerikaner Aldi lieben, lieben die Franzosen übrigens Lidl. Wobei man Lidl in Frankreich keinesfalls mit Lidl Deutschland vergleichen kann. Ich wüßte gar nicht, was ich sagen soll, welchen Discounter ich blöder finde, Penny oder Lidl, in beide gehe ich nur, wenn ich es nicht vermeiden kann. Aber in Frankreich ist Lidl sortiert wie ein Feinkostgeschäft, hier bekommt man alles, Jacobsmuscheln und Champagner. Aber nicht das, was ich suche.

Im Leclerc finde ich auf Anhieb fast alles. Senf von Fallot, Rillettes de Mans und Ziegenkäsetaler, kreolische Würzpaste, die mein Onkel verächtlich als zu süßes Industrieprodukt abtut und mir später selbstgemachte gibt.

Vom besten Tee der Welt, Bois Chéri aus Mauritius, habe ich auch schon genügend:



Nur Schnecken Bourguignonne in der Dose finde ich nicht, war letzes Mal schon schwierig, jetzt gibt es sie gar nicht mehr.

Meine Mutter begeistert sich an der Rotwein- und Käseauswahl. Die Regale in großen Supermärkten sind in Frankreich irgendwie immer so instagramtauglich. :ROFLMAO:



Das sind übrigens nur die Camemberts, nach links gings dann mit den Bries weiter.

Aber die Hauptsache und das 15 Kilo-Limit am meisten gefährdende ist natürlich der Rum.





Für die Schnecken, die nicht für mich gedacht sind, finde ich einen adäquaten Ersatz und wir fahren hochzufrieden nach Hause.

Als wir ankommen, steht vor der Tür ein kleines Päckchen mit meinem Namen darauf. Die Verpackung ist von Truffaut, einem Gartencenter, das gar nicht mal wirklich in der Nähe liegt. Eine Karte ist nicht dabei, aber als ich es auspacke, enthüllt sich eine Flasche Erdbeer-Bier und es wird klar, daß Caroline das gebracht haben muß. Das Thema biertrinkende Deutsche kam am Vortag auf und ich erwähnte, daß ich eigentlich nur diese aromatisierten Biere mag, bei denen es einen echten Biertrinker vermutlich genauso schaudert wie einen Italiener bei dem Gedanken an Pizza Hawaii. Das hat sie sich offenbar gemerkt und mir extra eine Flasche Erdbeer-Porter gebracht. Wie nett, sage ich, sie wohnt ja nicht mal in der Nähe. Wie komisch, sagt mein Onkel, wie sie wohl aufs Grundstück gekommen ist?

Der verregnete Abend vergeht mit Spielen. Meine Mutter hat Rummikub mitgebracht, gottseidank gibt es auch Spielregeln auf Französisch, so daß schon mal ausgeschlossen ist, daß eine fehlerhafte Übersetzung von mir für Streitigkeiten unter den Hardcore-Spielern hier sorgt.
Mein Onkel kapiert die Spielregeln schnell, trotzdem gewähren wir ihm drei Runden ohne aufschreiben. Da er am Vortag darauf bestanden hat, daß trotz unserer Unerfahrenheit mit den französischen Rami-Regeln vom ersten Spiel an die Punkte notiert werden, schämt er sich jetzt.

Während wir spielen, geht vor dem Haus zweimal der Bewegungsmelder an. Keiner kümmert sich, das ist eine ländliche Gegend hier, Katze oder so. Später am Abend, als das Haus zur Nacht verriegelt wird, stehen zwei weitere Geschenke für meine Mutter und mich vor der Tür, heimlich abgestellt, während wir spielten. Nun finde ich es nicht mehr nur nett, daß wir Marmelade und ein Lesezeichen bekommen haben. Nun fange ich an, es zumindest ein ganz kleines bißchen komisch zu finden.
 

GutesA

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Ich bin eigentlich kein Fan von Frankreich, aber das ist so lustig geschrieben, da bin ich auch dabei. Und dann noch span :giggle: ndende Stalker...
 

Densa

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Ich bin gespannt wohin sich die Stalker geschichte noch entwickelt. Die Gegend, in der Deine Tante wohnt ist ja wunderschön. Ich mag die französischen Supermärkte auch.
 

Ele

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Bin ich die einzige, die Peine Pattensen Paris französisch ausgesprochen hat und sich gefragt hat, was das wohl bedeuten soll 😆🙈?
 

Floridaperle

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Ich liebe diesen Ausspruch! Obwohl ich nur wenige Jahre in Hannover lebte, ist der Spruch noch immer in meinem Sprachgebrauch. In Pattensen habe ich sogar anfangs gearbeitet.
Witzig find ich, dass Suse von dort nach Berlin gezogen ist und ich in die Gegenrichtung.

Bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Die ländliche Gegend rund um Paris habe ich auch schon gesehen, lang lang ist es her... 1981 mit einer Freundin, die für ein Jahr in Paris lebte.
 

Etimommi

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Wir wohnen quasi fast in Frankreich und trotzdem verstehe ich kein Wort. Dein Bericht ist so witzig geschrieben. Als Ex-Berliner kann ich das um die Flughafengeschichte so gut verstehen und fühlte mich kurz, als wäre ich dabei gewesen.^^
 
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Suse65

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Da freu ich mich, wenn Ihr Spaß an dem Bericht habt. Dann erzähl ich mal weiter.
 
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Suse65

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Der Wald von Fontainebleau bildet zusammen mit dem Nationalpark Gatinais Francais ein riesiges zusammenhängendes Biosphärenreservat. Darin sind zahllose kleine Dörfer verborgen, manche für Besucher mehr oder weniger interessant, aber alle niedlich und sehenswert.

Es gibt zahlreiche Reitbetriebe, überall sind Reiter unterwegs, beliebt ist der Wald auch bei Kletterern, da an mehreren Stellen im Wald große, mit Felsbrocken übersäte Sandflächen zu finden sind, Überreste eines prähistorischen Meeres. Generell ist es hier an den Wochenenden und in den Ferien auch unter der Woche immer voll. Kommt man außerhalb dieser Zeiten und vielleicht auch bei nicht allerbestem Wetter, hat man die Gegend für sich.

Und weil heute genau so ein Tag ist, fahren wir am Mittag wieder los in den Wald.

Zur Auswahl standen für uns Milly-la-Foret und Barbizon. Milly-la-Foret ist vor allem wegen der von Jean Cocteau gestalteten Kapelle viel besucht. Jean Cocteau und sein Partner Jean Marais besaßen ein Haus in Milly-la-Foret und lebten dort mehrere Jahrzente. Deshalb zieht der Ort viele Fans und auch Menschen an, die sehen wollen, wo man schon so früh im 20. Jahrhundert toleriert offen schwul leben konnte. Da die gesamten Gemeinden in dieser Gegend zahlreiche Künstler anzogen, war die Atmosphäre hier vermutlich immer schon so, daß dies möglich war, ohne bei einer konservativen Landbevölkerung übermäßig anzuecken.

Bekannt ist der Ort in der Gegend aber auch für seinen Kräuteranbau, es gibt ein großes botanisches Informationszentrum mit dem Schwerpunkt auf einheimischen Kräutern und viele Geschäfte, in denen man gesunde Teemischungen (Tisanes), Kräuterkissen und Bonbons kaufen kann.


Die Entscheidung fiel auf Barbizon. In der Rangliste der beliebtesten Dörfer Frankreichs, die jedes Jahr ermittelt wird, hat Samois-sur-Seine es dieses Jahr auf den 14. Platz gebracht. Barbizon hingegen war 2015 sogar auf dem vierten. Im Gegensatz zu Samois liegt Barbizon nicht an der Seine, sondern mitten im Wald und die schönen Affolantes am Flußufer gibt es hier nicht. Die noblen Villen des Ortes sieht man kaum, die sind zumeist hinter hohen Sandsteinmauern verborgen.



Dieser Baum hat so unfaßbar gut geduftet.

Einmal längs durch den Ort zieht sich aber die Grande Rue, an der die Galerien und kleinen Geschäfte, die Restaurants und die historischen Hotels liegen.

Der Ort wirkt, genau wie Samois-sur-Seine, ein bißchen verschlafen und läßt zwar erkennen, daß Malerei hier eine große Bedeutung hat, aber nicht, welche Bedeutung der Ort für die Malerei hatte. Die sogenannte "Schule von Barbizon" war nicht nur irgendeine Künstlerkolonie, wo ein paar kreative Bohemiens sich eine Zeitlang mit Absinth betranken. In Barbizon, so sagt man rückblickend, fand die große Abkehr von der klassischen Malerei hin zu Impressionismus und Moderne statt. Die Maler, die hier vorwiegend im Freien ihre Motive direkt so malten, wie sie sie in der Natur beobachteten, waren die ersten, die den Blick auf die Landbevölkerung richteten, auf die Tiere und die Natur, und sie nicht mehr nur als religiöse Symbole darstellten, sondern so, wie sie eben waren. So wie Rosa Bonheur, deren alte Pferde nicht idealisiert waren, sondern so aussahen, wie alte Pferde eben aussehen. Und bei der Stadtbevölkerung kam dies gut an, auch wegen der intensiven Darstellung von Licht und Schatten, so daß man sich mit den Gemälden quasi ein Stück Natur ins Haus holte. Ein Gemälde, das sicher alle kennen, sind Millets "Ährenleserinnen", ein klassisches Beispiel der Schule von Barbizon:


Die Grande Rue ist der ideale Ort, um an einem sonnigen Nachmittag gemächlich auf und ab zu flanieren und Schaufenster zu gucken, wenn man Lust hat, in eines der kleinen Museen oder in die Galerien zu gehen, irgendwo einen Kaffee zu trinken oder einen Waldspaziergang anschließen zu lassen.



Weil meine Tante krankheitsbedingt nicht so gut zu Fuß ist, setzen sie die Mutter und mich am Anfang des Ortes ab und werden uns später in einem Waldcafé wiedetreffen. Das Wetter ist schön, es ist gerade späte Mittagszeit, die Restaurants und Cafés sind voller Leute. Wir kennen uns hier gut genug aus und wissen, wie wir zum Waldcafé kommen, es ist vielleicht eine Wanderung von 2 Kilometern, höchstens, also haben wir jede Menge Zeit. Das Auto verschwindet gerade am Horizont, wir kramen noch in unseren Taschen nach Fotoapparat und Handy, als es hinter hinter mir laut hupt. Ich drehe mich erschrocken um in der Erwartung irgendwem die Durchfahrt versperrt zu haben bei meiner Wühlerei in der Tasche, aber es ist - nun, man errät es wohl - Caroline. Bevor ich mich noch fragen kann, wie sie es genau abgepaßt hat, hier zu erscheinen, wenige Sekunden nachdem wir ausgestiegen sind und man das Auto noch am Ende der Straße im Wald verschwinden sehen kann, fährt sie schon das Fenster herunter und fragt, wo denn Tante und Onkel seien. Als ich ihr erkläre, wie wir den Nachmittag geplant haben, fordert sie uns nachdrücklich auf, einzusteigen, unser Plan sei nicht sinnvoll, wir sollten erst den Kaffee trinken, dann hätte man hernach viel mehr Zeit ins Museum zu gehen. Wir wollen aber weder in ein Museum gehen noch wollen wir jetzt bei ihr einsteigen, und das sage ich ihr dann auch, freundlich, aber bestimmt. Sie zuckt mit den Achseln, eine Geste, die ausdrückt, wir müssten ja wissen, was wir tun, und saust davon, eindeutig Richtung Waldcafé. Nun denn, da wissen wir ja schon, wenn wir dort später antreffen werden.

Daß sie überhaupt hier ist, ist jetzt kein wirkliches Rätsel, natürlich hat sie mitbekommen, daß meine Mutter und ich uns beide für Barbizon ausgesprochen haben, als es um die Planung der nächsten Tage ging. Wir lästern trotzdem ein bißchen herum, ob sie wohl hinter einer Ecke gestanden und gewartet hat, bis sie uns hat vorbeifahren sehen, um dann ungebeten als Organisatorin des Nachmittages in Erscheinung zu treten. Barbizon lenkt dann die Aufmerksamkeit aber schnell wieder auf sich.

Der ganze Ort ist mit Mosaiken der bekanntesten hier enstandenen Gemälde geschmückt:






Das La Bohème, das wohl bekannteste Restaurant von Barbizon



Über das Mahnmal, das der Gefallenen der Weltkriege gedenkt, wacht Vercingétorix, der unbeugsame Gallier und wahre Asterix.



Wem der Name nichts sagt, hat ihn vermutlich trotzdem schon gesehen, in den Asterix-Comics, für die er wohl Vorbild gewesen sein dürfte, ist er derjenige, der am Anfang Cäsar seine Waffen auf die Füße pfeffert:


Das ist tatsächlich das (gerade geschlossene) Postamt:



Am Ende der Straße das Hotel "Bas-Breau"



das nicht nur ein sehr hübsches Fachwerkgebäude im normannischen Stil ist, sondern vor allem dadurch bekannt wurde, daß Robert Louis Stevenson hier gewohnt hat. Es gibt Themenwanderungen, auf denen man die Wege nachgehen kann, die er in der Umgebung regelmäßig gegangen ist, oder auch solche, die weiter weg führen. Stevenson ist gern ausgiebig gewandert und hat darüber geschrieben.

Da es ja bekanntermaßen viele Menschen gibt, die mit Frankreich selbst nix anfangen können, aber französische Filme mögen, empfehle ich mal, sich den Film "Mein Liebhaber, der Esel und ich", in dem eine mit einem typisch französischen Plot (vom Liebhaber verschmähte Frau) ergänzte Wanderung von Stevenson nacherzählt wird. Der Film hat jetzt zwar nichts mit Barbizon zu tun, ist aber wirklich nett.


Am Waldrand geht die Grande Rue in einen schnurgeraden Waldweg über. Ein letztes Haus am Waldrand darf sich vielleicht zu den "Affolantes" zählen:





Auf dem Weg zum Café passiert man schon die ersten kleinen Überreste des prähistorischen Meeresbodens:





Aber das sind nur kleine Bröckchen im Vergleich zu denen, die man tiefer im Wald im Mer de Sable findet. Auch im Gatinais Francais gibt es solche Felsformationen, sehr beliebt bei Kletterern.

Mein Onkel kommt uns ein Stück entgegen. Offensichtlich muß er was loswerden. Er möge sie ja wirklich gern, die Caroline, sie sei nett und eine Freundin, aber im Moment übertreibe sie irgendwie. Er habe ihr auch schon klargemacht, daß sie heute Abend zum Essen bei Familienangehörigen in Paris, nicht mitkommen kann.

Das Waldlokal ist eine reine Freiluftveranstaltung, trotzdem herrscht Strenge, selbst beim Abholen der Bestellung am Tresen muß die Maske aufgesetzt und der Pass Sanitaire vorgezeigt werden. Wir finden es trotzdem idyllisch hier. Ja, meint der Onkel, ihr Deutschen seid ein Volk des Waldes, das merkt man, da fühlt ihr euch wohl. Das trifft auf uns wohl tatsächlich zu. Und auch wenn man dem Wald von Fontaninebleau anmerkt, daß große Areale aufgeforstet sind und er mit dem Urwald im Oberharzer Nationalpark nicht zu vergleichen ist, ist er trotzdem schön mit seinen Kalksteinfelsen und seinen efeubewachsenen Bäumen.
 
OP
Suse65

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Als ich ein klein bißchen ironisch bemerke, daß ja gestern Abend ein Erdbeerbier vor der Tür gestanden hätte und noch andere Sachen, räumt Caroline natürlich sofort ein, daß sie die Geschenke gebracht hat und begründet die Heimlichkeiten damit, daß sie uns nicht habe stören wollen.. Das ist ja immerhin schon mal ein Fortschritt, denke ich. Die Marmelade, die sie gebracht hat, ist aus irgendwelchen besonderen Kirschen und wird vermutlich sehr süß sein, so wie auch Kuchen und Torten in Frankreich meist sehr viel stärker gezuckert sind als in Deutschland.

Die Unterschiede zwischen den Ländern, vor allem in puncto französische vs. deutsche Küche sind ein immer wiederkehrendes Thema zwischen Deutschen und Franzosen. Wenn sich die deutsche Volksseele durch den Wald symbolisieren läßt, tut es die französische wohl durch die haute cuisine, die natürlich sehr viel mehr haute ist als die deutsche, der Meinung ist selbst Caroline.

Wenn man sich dafür auf harmlose Weise ein bißchen rächen möchte, muß man behaupten, Karl der Große sei selbstverständlich Deutscher gewesen und danach gleich noch erwähnen, daß Romy Schneider auch keine französische Schauspielerin war. Wenn man die Franzosen damit dann genügend geärgert hat, kann man das wieder gutmachen, indem den Namen Pierre Brice fallen läßt und betont, daß dieser in der deutschen Volksseele gleich nach dem Wald kommt, zumindest in der weiblichen, generationenübergreifend, so als weltbester Winnetou ever, in den zumindest eine Zeitlang verliebt zu sein für jedes deutsche Mädchen Pflicht war. Man kann sicher sein, daß der geschmeichelte französische Gesprächspartner im Anschluß direkt nach Pierre Brice googeln wird, weil den Namen in Frankreich, bis auf eine Handvoll hardcore-Cineasten vielleicht, niemand je gehört hat. ;)

Gemeinsam ist den Franzosen sowie den Deutschen die Vorliebe für asiatisches Essen und so fällt die Entscheidung, morgen Abend zum China-Buffet zu gehen. Es wird der letzte gemeinsame Abend sein und da meine Mutter ihren 80. Geburtstag diesen Sommer dank Corona nicht feiern konnte, möchte sie uns einladen. Ich halte es für ein bißchen ungeschickt, daß dies in Gegenwart Carolines besprochen wird und bin erleichtert, daß sie darauf nicht reagiert, ebenso wie auf die Gespräche, die sich um den heutigen Abend drehen, den wir bei Verwandten meines Onkels in Paris verbringen werden. Grundsätzlich ist es natürlich nicht angenehm für eine Person, die nicht eingeladen ist, zuhören zu müssen, wie Dritte ihre gemeinsamen Pläne besprechen, andererseits haben wir kaum Gelegenheit gehabt, irgendwas ohne sie zu bereden, da sie ja immerzu dabei ist.

Auf der Hinfahrt nach Paris schon und auch auf der Rückfahrt in der Nacht überholen uns diverse Polizeifahrzeuge. Gefangenentransporte, meint meine Tante, die Angeklagten vom Bataclan-Prozess sitzen in dem großen Gefängnis in Fleury-Mérogis, was genau auf halber Strecke zwischen Paris und unserem Dorf liegt.

Unsere Gastgeber haben zufälligerweise gerade eine Eselwanderung hinter sich, nicht die von Robert Louis Stevenson, aber so ähnlich. Und sie hatten ähnliche Schwierigkeiten wie die arme Frau in dem weiter oben verlinkten Film. Eines der Kinder hat einen Tritt kassiert und bissig war der Esel auch. Ich halte ohnehin nichts davon, Laien solche Tiere unbeaufsichtigt in die Hände zu geben, meist kommt das nicht von ungefähr, wenn die Tiere so werden, aber das sage ich natürlich nicht.

Meiner Mutter hat der Abend in Paris so gut gefallen, daß sie nun doch nicht wieder nach Hause fahren möchte, ohne noch einen Tag in der Stadt verbracht zu haben. Sie kennt Paris natürlich, was sie nach eigener Aussage noch nie gesehen hat, ist das Centre Pompidou. Beim letzten Paris-Besuch haben uns die Gilets jaunes und ihre Blockaden einen Strich durch die Rechnung gemacht, diesmal ist es der Prozeß. Auf der Ile de la Cité, der Insel in der Seine, auf der auch die noch nicht ganz wieder fertiggestellte Notre Dame steht, befindet sich der Justizpalast und hier findet auch der Prozeß statt, weshalb der Bereich um die Insel weiträumig abgesperrt ist. Das Centre Pompidou liegt nicht weit von der Ile de la Cité, aber wir wollen versuchen, ob wir diesmal dort hinkommen.

Vom Lande kommend erreicht man Paris am besten mit den Vorortzügen, den sogenannten Transiliens, die die Ile de France durchqueren. Praktisch ist, daß man mit dem Ticket dann auch noch seine Anschluß-Metros benutzen darf, bis man am Ziel ist.

Im Haushalt meiner Tante gibt es einen uralten Guide Michelin, den sich einfach immer jeder nimmt, der nach Paris hineinfährt, das Metronetz hat sich ja seit Ewigkeiten nicht wesentlich geändert und es ist immer praktisch, einen Plan dabei zu haben. Als wir dann im Transilien sitzen, fällt mir auf, daß mir der Guide nichts nützen wird, denn der ist so alt (und zerfleddert), daß das Centre Pompidou zur Zeit seines Erscheinens noch gar nicht gebaut war.

Ich war selbst auch Ewigkeiten nicht da, kann mich zum Glück aber dunkel erinnern wie die nächstgelegene Metrostation hieß (Rambuteau). Das Centre Pompidou hatte als großes Kulturzentrum auch eine kostenlose Bibliothek, die wir damals, als mittellose Au-pair-Mädchen, regelmäßig aufsuchten.

Die Galerien im Centre Pompidou zeigen vor allem moderne Kunst, was mich jetzt gar nicht so reizt, aber da es ja der Wunsch meiner Mutter ist, passe ich mich an. Angenehme Überraschung vor Ort ist dann, daß tatsächlich gerade eine Ausstellung einer Malerin läuft, die ich kenne und sehr mag, Georgia O'Keefe. Pass sanitaire vorgezeigt und die Taschen in die Schließfächer gestopft und drin sind wir. Es ist voll, ein bißchen zu voll sogar, wie ich finde, aber sehr lohnenswert.

Georgia O'Keefe malte wohl die längste Zeit ihres Schaffens die Wüstenlandschaften New Mexicos (und das, was darin so herumliegt). Ihr vielleicht bekanntestes Bild:



oder doch eher dieses?




Am Centre Pompidou, von den Parisern auch Beaubourg oder "Raffinerie" genannt, sitzen die Rolltreppen außen in gläsernen Röhren. Das gibt schöne Ausblicke über Paris:

Eiffelturm in die eine Richtung



Montmartre mit Sacré Coeur in die andere:




Anschließend gibt es Crepes in einem Lokal neben dem leider gerade ausgeschalteten Niki de St.Phalle-Brunnen. Für Hannoveraner ein Muß, die Künstlerin gehörte in Hannover quasi zum Inventar. 😉
Auch wenn der Brunnen nicht sprudelt und ein wenig vermüllt ist (weshalb ich ihn auch nicht fotografiert habe), es ist traumhaft schön, warmer goldener Sonnenschein, allerbestes Spätsommerwetter.

Schwierigkeiten wegen des Bataclan-Prozesses, der ja noch mindestens 8 Monate dauern soll, hatten wir hier keine. Aber natürlich ständig dies hier:



Pass sanitaire scannen lassen.

Hinter dem Centre Pompidou gibt es viel zu sehen, schöne, nicht überlaufene Kirchen wie St. Merry, an der man vorbeikommt, wenn man zur Rue Rivoli hinuntergeht, auf der man dann parallel zur Seine bis zum Louvre weiterspazieren könnte oder noch weiter bis zur Place de la Concorde und den Champs Elysees, wo gerade der Triumphbogen christomäßig eingewickelt wird. Oder in die andere Richtung das Marais, das wohl geschichtsträchtigtste Viertel von Paris. Hätte, könnte, wollte, wir müssen aber schon bald wieder zurück, die Fahrt bis zu unserem Zielort dauert fast eine Stunde und am Abend wartet ja noch das chinesische Buffet auf uns.

Auf dem Rückweg zur Metrostation haben wir die Gelegenheit, das lokale Faktotum zu erleben. Wüßte man nicht, wer er ist, würde man wohl denken, ach, irgendein nerviger Clochard, der die Ratten der Lüfte füttert. Aber der gebeugte, zerlumpte Mann, der hier schon seit Jahrzehnten tagtäglich gigantische Taubenscharen versorgt, ist Giuseppe Belvedere, der Taubenmann vom Beaubourg.





Giuseppe lebt in seinem alten Mercedes in einer Seitenstraße im Marais. Er hat nicht nur Feinde, auch Unterstützer. Wen es interessiert, es gibt ein paar (wie ich finde) sehr gelungene Videos über ihn, die unabhängig von seinem Schicksal auch schön die Atmosphäre am Beaubourg einfangen.


Ich kenne keinen Menschen, der so oft seinen Whatsapp-Status aktualisiert wie meine Mutter, die, nachdem sie mit Ende 70 ihr erstes Smartphone bekommen hat, mit dem Ding besser umgehen kann als ich. Jetzt erfreut sie ihren Freundeskreis mit Fotos aus Paris. So daddeln wir auf der Rückfahrt vor uns hin und die Fahrt geht schnell herum. Ein schöner, entspannter Tag bei bestem Wetter.

Aber, wie stand es schon an einer Wand hinter dem Brunnen zu lesen:

 

Rosa

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Auch nach 9 Jahren Französisch in der Schule kann ich unserem Nachbarland nicht wirklich was abgewinnen...
Deinem Bericht hingegen schon! (y)
Die Landschaft und die netten Ortschaften gefallen mir wirklich gut und dein Schreibstil ist super.
Diese Caroline finde ich allerdings etwas creepy, die verhält sich bisschen wie im Psychothriller😱

Ich freue mich, wenns weitergeht!

Gruß
Rosa
 
OP
Suse65

Suse65

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Nachdem ich die ganze letzte Woche keine richtige Zeit hatte, mich dem Beenden des Reiseberichts zu widmen, will ich ihn heute mal fertig stellen.
Der Rest ist auch schnell erzählt.

Devine qui vient dîner sind die Worte, mit denen mein Onkel uns am späten Nachmittag begrüßt, als er uns nach unserer Rückkehr aus Paris vom Bahnof abholt. Normalerweise würde man jetzt direkt an den Filmklassiker "Rat mal, wer zum Essen kommt" denken, aber nicht wir. Wir denken natürlich sofort an, wie könnte es anders sein - Caroline.

Meine Mutter ist entrüstet, es soll doch das gemeinsame Familienessen sein, für den ausgefallenen Geburtstag, unverschämt sei das, sich einfach selbst einzuladen. Der Trick ist, Caroline geht nicht allein, sondern mit ihrer Mutter und wird halt an diesem Abend im gleichen Restaurant sein. Na so ein Zufall.

Als wir abends dort eintreffen, sitzen die beiden schon allein an einem runden Tisch für sechs Personen und es ist natürlich ganz außer Frage und wäre wohl auch extrem unhöflich, setzten wir uns jetzt einfach woanders hin. Die Mutter ist auch wirklich eine süße alte Dame, 90 Jahre alt und ganz klein eingeschrumpelt mustert sie uns mit listigem Blick.

Caroline stellt rasch klar, daß sie natürlich nicht erwartet, von meiner Mutter zum Essen eingeladen zu werden, sie sei ja mit ihrer Mutter da und zahle für sie beide selbst. Ein bißchen einmischen muß sie sich natürlich trotzdem, so bekomme ich während des Essens mehrfach den Vorwurf ins Ohr geraunt, man hätte den Besuch hier besser vorbereiten müssen. Wir hätten die Chinesen wissen lassen sollen, daß hier ein Geburtstag gefeiert wird, dann würden die immer eine Überraschung bringen. Naja, wende ich ein, da kommt dann meistens ein Eis oder ein Kuchen mit so einer Wunderkerze und das ganze Restaurant singt, das ist eher nix so richtig für meine Mutter. Daraufhin trifft mich der gleiche Blick wie vorgestern, als ich in Barbizon nicht ins Auto steigen wollte und mir schwant, daß Caroline sich jetzt selbst darum kümmern und der Kuchen trotzdem kommen wird. Und genau so kommt es dann auch, inklusive Wunderkerze und Gesang. Meine Mutter macht gute Miene und ich bin wohl die einzige, die unter dem lauten "Happy Birthday"-Gesang aller anderen anwesenden Gäste ihr leises "Ach du meine Güte" hören kann.

Es handelt sich um eine Art Apfelkuchen, der gar nicht mal so schlecht schmeckt, und mit einer Tasse Kaffee zum Abschluß könnte der Abend dann entspannt ausklingen, wenn Carolines Mutter nicht noch unter Beweis stellen müßte, was ich direkt bei der Begrüßung aus den hellwachen Knopfaugen abzulesen können meinte. Die alte Dame ist ein mit allen Wassern gewaschenes Schlitzohr, und während wir den Kuchen verdrücken, verdrückt sie sich an das Süßigkeitenbuffet. Neben den ganzen Desserts ist ein Regal mit allen möglichen Haribotieren, sauren Fröschen, Gummischlangen, Bonbons und was das Kinderherz so begehren mag, aufgebaut. Ziemlich lange sehen wir sie vor dem Regal auf und ab wandern, klein wie sie ist, schaut nur der Scheitel hinter den Boxen hervor, der sich mal nach rechts, mal nach links bewegt, gelegentlich vor einer Box länger verweilt, aber keine Anstalten macht, zu uns zurückzukommen. Was sie da mache, fragt mein Onkel Caroline. Ach, sagt diese ziemlich gleichgültig, jetzt klaut sie wohl wieder Bonbons für die Enkel und Urenkel. Und, sagt mein Onkel, wenn nun ein Chinese vorbeikommt, der sieht das doch, daß das unmöglich alles für sie selbst sein kann, wenn sie sich da jetzt stundenlang den Teller vollhäuft? Gibt das keinen Ärger? Caroline zuckt mit den Achseln, sie macht sich da keine größeren Sorgen. Würde ich wohl auch nicht, die Wahrscheinlichkeit, daß die Restaurantbetreiber eine knapp 90jährige Dame zusammenfalten, weil sie ein paar Bonbons klaut, ist wohl eher gering.

Als sie wieder an den Tisch zurückkehrt, ist die Süßigkeitenpyramide, die sie auf ihrem Teller heranbalanciert, unter einer Serviette nur unzureichend getarnt, ehrlich gesagt betont der Lappen eher die Größe des Haufens. Als sie dann ein bißchen erschöpft von ihrem Raubzug hinter dem Tisch auf ihre Bank sinkt, wird ihr wohl auch klar, daß sie jetzt ein Problem hat. Wie sie das jetzt nach Hause transportieren solle, darüber habe sie sich keine Gedanken gemacht, meint sie zu Caroline. Wo tue ich das jetzt rein? Die Antwort ihrer Tochter kommt so prompt, daß man vermuten darf, daß sich diese Situation nicht zum ersten mal abspielt: Tu es doch in deine Unterhose.

Totenstille am Tisch.

Meine Mutter sagt leise auf Deutsch zu mir, was das bedeuten solle, ob sie es sich den Teller mit den Süßigkeiten jetzt wohl gleich in den Hosenbund kippen wird? Mein Onkel windet sich unbehaglich. Carolines Mutter scheint die Verwirrung zu spüren und öffnet zur Erklärung ihre Handtasche und gewährt uns einen Blick auf den Saum einer Unterbuxe. Habe sie immer als Ersatz dabei, falls mal ein Malheur passiere. Diese sei aber ungetragen und blitzsauber. Schwupps, sind die Bonbons in den Schiesser Feinripp geschüttet und zu ist die Tasche, keiner hat's gesehen.
So richtig kann sie unser Schweigen aber wohl nicht einordnen und ihr Gesichtsausdruck wechselt von der Zufriedenheit über den erfolgreichen Beutezug zu etwas betretener Mimik, weil niemand etwas sagt.

Für einen weiteren Moment herrscht Stille am Tisch. Dann beginnt meine Tante zu kichern, danach meine Mutter und ich, bis uns schließlich alle ein so heftiger Lachanfall packt, daß die Kellnerin erscheint und fragt, ob alles in Ordnung ist. Wir verlangen dann gleich mal die Rechnung und nachdem das alles auseinanderdividiert ist, haben wir auch wieder Luft geschnappt und können erneut loslachen, als die Runde Reiswein aufs Haus gebracht wird. Traditionsgemäß kommt der hier in Gläsern, auf deren Boden durch das Eingießen des Getränks eine unbekleidete Schönheit des jeweils anderen Geschlechts sichtbar wird, was in unserer Runde natürlich die Frage aufwirft, ob diese armen Menschen wohl ihre Unterhosen hergeben mußten, damit jemand darin Bonbons transportieren kann.

Es endet der Abend also recht feuchtfröhlich und wir verabschieden uns ein weiteres Mal von Caroline und ihrer gewieften Mama, in dem Glauben, sie vor der Abreise nun aber wirklich zum letzten Mal gesehen zu haben.

Ganz unabhängig von der Möglichkeit, den heimischen Bonbon-Vorrat aufzustocken, kann man jedem Frankreich-Urlauber, der die französischen Spezialitäten, die man sonst normalerweise nicht so ißt, mal durchprobieren möchte, um mal Jakobsmuscheln, Froschschenkel und Schnecken oder hinterher eine üppige Käse- und Dessertauswahl zu nennen, raten, einfach ein All-you-can-eat Chinabuffet zu besuchen, denn dort bekommt man das alles zu einem Bruchteil des Preises, den man in einem "richtigen" französischen Restaurant zahlen würde, und die klassischen chinesischen Gerichte eben noch dazu. Wenn es einem dann geschmeckt hat, kann man es ja nochmal in einem stilechten Restaurant vergleichen gehen.

Am Abreisetag sind wir von all you can eat immer noch so vollgestopft, daß das Frühstück ausfällt. Eigentlich würden wir am liebsten mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse sitzen und stumpf auf den Teich starren. Es sind 30 Grad, es wäre genau der richtige Tag, um einfach abzuhängen.



Um 14 Uhr erscheint - man ist kaum noch überrascht - Caroline. Noch unwillkommener als sie selbst ist mir der Kuchen, den sie extra gebacken hat. Die Sache wird wirklich anstrengend. Ich kann nichts essen, beim besten Willen nicht.

Um 15 Uhr mümmeln wir alle höflich ein Stück Tarte. Noch ein Kaffee, naja, jetzt muß sie doch aber langsam mal los, oder? Meine Mutter und ich ziehen uns in unsere Zimmer zurück und packen die Koffer. Die im Haushalt vorhandene Personenwaage zeigt 13,5 Kilo, na hoffentlich stimmt das.

Caroline verabschiedet sich kurz vor knapp und im Auto erzählt mein Onkel uns, daß sie ihn gefragt habe, ob sie nicht noch mit zum Flughafen kommen könne, was er ihr wohl mit der Begründung des angeblich platzfordernden Gepäcks ausreden konnte. Überdosis, sage ich nicht zum ersten Mal, ich hatte jetzt wirklich eine Überdosis Caroline.

Dann sind wir in Orly. Vorbei an der eingangs des Flughafengeländes ausgestellten Concorde



geht es zum Parkplatz. Da das Abliefern der Gäste im Flughafengebäude ja ebenso verboten ist wie das Abholen, erfolgt die Verabschiedung direkt auf dem Parkplatz, dann zerren wir unsere angeblich <15 Kilo-Koffer hinter uns her. In Orly arbeiten noch Menschen, dementsprechend wird hier streng kontrolliert, was die Impfpässe hergeben. Die Gepäckbandanzeige informiert uns, daß Tante und Onkel ihr Gewicht um 3,5 Kilo nach oben korrigieren müssen. Mein Koffer hat 17, aber niemanden interessierts, gottseidank.

Unser Flug hat fast eineinhalb Stunden Verspätung. Wir vertreiben uns die Zeit im Duty Free Shop und kaufen noch ein bißchen Paris-Souvenir-Blödsinn, Schokoladentäfelchen mit Toulouse-Lautrec-Plakatmotiv-Verpackung und sowas, als kleine Dankeschöns für daheimgebliebene Blumengießer und andere Gelegenheiten.

Als wir in Berlin ankommen, sind wir für den Tag wohl die letzte Maschine gewesen. Der BER hat ja wohl keine Nachtflugerlaubnis und an den Anzeigetafeln ist auch keine ankommende oder abgehende Maschine mehr angeschlagen. Gottseidank sind wir nicht die einzigen, die nochmal aufs Klo müssen, bevor sie den 12minütigen Rückweg zu den Gepäckbändern antreten können, so daß wir wenigstens ein kleines Grüppchen sind, das von unsichtbarer Hand vorangetrieben. In jedem Wartebereich, den wir Nachzügler passieren, wird nach uns das Licht gelöscht, ebenso in den Fluren. Wer es wagt, das Tempo zu verringern, indem er sich umblickt, blickt in die tiefe Schwärze von Terminal 1. Meine Mutter meint, das sei ja schon arg gruselig gerade, und ich briefe sie im Laufen kurz, daß, wenn jetzt etwas mit ausgestreckten Armen aus der Dunkelheit nach uns greifen sollte, es vermutlich ein Zombie ist und man bei denen immer direkt auf den Schädel zielen muß.

Wir schaffen es aber lebend bis zu den Gepäckbändern, wo unsere Koffer einsam ihre Runden drehen. Gottseidank sind sie heil und ziehen auch keine feuchte Spur aus Rum oder Rotwein hinter sich her. Alles heil geblieben:



Bis zur nächsten Frankreich-Reise haben wir jetzt erstmal Vorrat, aber irgendwann müssen wir wieder hin und wenn wir dann wieder irgendwas Interessantes anschauen, erzähle ich vielleicht davon und auch, ob es dann wieder hieß "Rat mal, wer zum Essen kommt". ;)
 
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