Am nächsten Morgen packen wir die Rucksäcke, auch Badesachen und Handtücher. Wir machen die Inseldurchquerung und auf unserer Tour heute soll es Gelegenheit zum Baden unter einem Wasserfall geben.
Außerdem eine kleine Wanderung zu einem Bergsee, wunderschön soll das sein und auch anspruchslos, das haben mir die Franzosen gestern erzählt, die die Tour schon gemacht haben. Meine Urängste, ich könnte bei irgendwelchen komplizierten Kraxeleien über rutschiges Geröll die Gruppe aufhalten oder mich womöglich auf irgendeinem Felsen mit Absturzgefahr gar nicht mehr weitertrauen, wurden somit ausgeräumt, und ich freue mich. Auch wenn wir natürlich schon ahnen, daß wir bei einer Gruppentour nicht die Möglichkeit haben, die Gegend so zu erkunden, wie wir uns das eigentlich vorstellen. Es wird nur kurze Fotostops geben, dafür aber hoffentlich viele Erklärungen zu Fauna und Flora. Und wenn es uns so gut gefällt, wie wir erwarten, kommen wir eben irgendwann in der Zukunft nochmal zu einer individuelleren Tour zurück und fangen dann nicht bei Null an.
Die Taldurchquerung könnte man auch als Wanderung machen, wobei die Tour selbst größtenteils auf angelegten Wirtschaftswegen zurückgelegt wird und eher aufgrund der zu überwindenden Höhenmeter hohe Anforderungen stellt, nämlich an die Fitness. Außerdem besteht durchaus die Möglichkeit, das Tal als Selbstfahrer zu durchqueren, aber das ist eine Sache, die man sich vielleicht erstmal angucken sollte. Wir sind heute mit einem allradgetriebenen Pickup unterwegs, der uns am Hotel abholen soll.
Dabei haben wir dann direkt einen schlechten Start, denn in den letzten zwei Tagen haben wir wiederholt beobachtet, wie Gäste auf der Frühstücksterrasse von ihren Guides zu den organisierten Touren abgeholt wurden, also warten wir auch hier. Daß der Treffpunkt unterhalb des Fare Suisse an der Straße ist, hat uns niemand gesagt, so daß der Guide irgendwann verärgert nach uns suchen kommt und uns direkt anpampt, ob wir denn nicht die Tour machen wollten, und weshalb wir denn dann nicht kämen.
Auf den Bänken auf der Ladefläche ist Platz für ungefähr 10 Personen, wir werden aber nur zu acht sein, so ist es ganz bequem. Ein französisches Paar auf Hochzeitsreise sitzt bereits da, beide noch ganz jung. Dazu kommen noch zwei Ehepaare aus New York, alle vier machen die Tour, um die Zeit vor der Abreise der Norwegian Spirit totzuschlagen.
Unser Fahrer ist ein wortkarger Typ, wir denken zuerst, er sei noch verärgert, weil wir aufgrund des Mißverständnisses bei der Abholung nun Zeitverzug haben, aber das waren sowieso nur wenige Minuten und die holt er mit seinem Fahrstil locker wieder raus.
Um nach Papeno‘o zu kommen, müssen wir das Stadtzentrum durchqueren. Um uns herum kurven waghalsig die Roller, und ich habe noch nicht ganz zuende gedacht, daß es hier bestimmt oft Unfälle gibt, da passiert es auch schon. Hinter uns fährt ein großer Geländewagen auf eine Rollerfahrerin auf, eine ältere Polynesierin in einer Robe Mission sitzt darauf, sie kippt um und liegt offenbar benommen da und rührt sich nicht, ihre Blumenkrone ist ihr vom Kopf gefallen und liegt vor ihr auf der Straße. Wir sind auf unseren Sitzen auf der Ladefläche quasi live dabei. Ich entschließe mich, bis wir oben in den Bergen sind, doch mal lieber den Sicherheitsgurt anzulegen.
Das Tal von Papeno’o ist das höchstgelegene Tahitis und eigentlich ein Vulkankrater, der von bis zu 2000 Meter hohen Berggipfeln gesäumt wird. Abhängig von der Regenmenge gibt es unzählige Wasserfälle und weiter oben im Tal erreicht man den unteren Rand des Nebelwaldes, in dem die Vegetation eigentlich permanent im Dunst der Wolken hängt.
Bis zum Beginn der Straße, die Tahiti einmal von Nord nach Süd durchquert, war die Fahrt zwar zügig, aber angenehm. Als wir in das Tal selbst einbiegen, wird es direkt unlustiger, denn nachdem wir die letzte Siedlung hinter uns gelassen haben, ist der Weg nicht mehr asphaltiert. Schlaglöcher heißen auf Französisch Nid de Poule, Hühnernester, aber der putzige Ausdruck ändert nichts daran, daß es alles andere als angenehm ist, wenn sich eins ans andere reiht. Wir sind noch nicht lange gefahren, als mir der Ehemann schon zuraunt: Merkste? Stoßdämpfer sind kaputt.
Ja, das ist mir durchaus schon aufgefallen. Hoffentlich ist der Rest wenigstens in Ordnung. Bremsen zum Beispiel. Ich mache mal sicherheitshalber den Gurt wieder ab.
Nach einer Weile halten wir am Straßenrand und es gibt eine kurze Einführung in den Tagesablauf. Nun stellt sich auch heraus, daß die Maulfaulheit unseres Guides nichts mit uns zu tun hat. Er hat, wie er uns sagt, ja nun festgestellt, daß seine Gruppe überwiegend aus Amerikanern besteht und er könne ja eigentlich kaum Englisch, da hätten wir ja leider Pech mit ihm heute. Den Amerikanern geht das offenbar am schlaglochgeplagten Allerwertesten vorbei, sie winken nur ab.
Das genügt ihm offenbar, um seinen Stimmbändern mal generell einen Tag Pause zu gönnen, denn auch Erklärungen auf Französisch gibt es nur auf gezielte Nachfrage. Also keine kleinen Geschichten und Legenden aus dem Bergtal, wie es andere Leute auf Tripadvisor oder in ihren Videotagebüchern beschrieben haben, kein Pflücken von Früchten oder Erläuterungen über Nutzpflanzen und ihre Verwendung. Das eigentliche Problem aber wird, daß die Fotostops ohne eigentlich vorgesehene Vorträge über Flora, Fauna und die Sagen der Polynesier noch kürzer werden, als ohnehin schon.
Die Landschaft ist auch hier, im unteren Bereich des Tals, üppig grün. Wir halten mehrmals an Wasserfällen. Ob sie Namen haben, erfahren wir nicht, aber die meisten der kleineren werden ohnehin keine haben, sondern aufgrund der Regenfälle spontan entstanden sein und danach wieder versiegen.
Als wir uns langsam in höhere Lagen arbeiten, tauchen am Wegesrand und an den Hängen die ersten großen Farne auf, mit Wedeln von bis zu vier Metern Länge. Das ist Angiopteris evecta, gigantische Gewächse, die aber keinen Stamm bilden. Beim nächsten Stop belagere ich den Guide mit Fragen und die beantwortet er auch bereitwillig.
Der Nahe, wie dieser Farn auf Polynesisch heißt, war früher, wie in vielen Ländern Ozeaniens auch, ein Grundnahrungsmittel. Die frischen Austriebe sind gekocht eßbar. Das ist nicht unüblich, auch in Kanada und Japan werden „Fiddleheads“, die noch nicht ganz entrollten Farnwedel anderer Farnarten, die im Frühjahr an die Schnecken in den Geigenköpfen erinnern, gegessen. Roh enthalten sie Karzinogene, die zu Speiseröhrenkrebs führen. Ob das hier auch bekannt sei, kann er mir nicht beantworten, aber gegessen wurden sie, vor allem von Jägern, bei längeren Aufenthalten in den Bergregionen. Eine Heilpflanze ist er außerdem. Da er keinen Stamm bildet, hat er unterirdisch ein großes Rhizom, dessen Wurzeln entzündungshemmende Wirkung haben und aus denen Breiumschläge für Verletzungen zubereitet wurden.
Ich mag den Nahe vor allem wegen seiner urwüchsigen Schönheit, die Wedel sind so breit und dicht, daß einige dahinter liegende Mini-Wasserfälle komplett verdecken. Wenn man sie beiseite schiebt, tut sich dahinter eine kleine Märchenwelt auf. Nur leider haben wir hier heute keine Zeit zum Verweilen. Die Amerikaner gähnen schon ein bißchen herum und lassen durchblicken, daß sie der vielen Kaskaden nun langsam überdrüssig werden und man nicht bei jedem anhalten müsse.
Was die Fauna des Tals anbetrifft, hat unser Guide insofern Glück, als es da nicht viel zu erklären gibt, denn wie fast alle Inseln Ozeaniens ist Tahiti artenarm. Die abgelegenen Inseln haben nur wenig Landfauna, die Vielfalt gibt es hier vor allem im Wasser. Sperbertäubchen mit ihrem vertrauten Gurren sind zahlreich und am Himmel sehen wir gelegentlich einen Tropikvogel, ansonsten ist er leer und an den Ufern gibt es hier auch keine Reiher, Schildkröten oder gar Alligatoren. Das hat natürlich schwimmtechnisch seine Vorteile, aber verglichen hiermit ist Florida quasi die Serengeti.
Ausgerechnet der eigentlich für das Baden vorgesehene Wasserfall ist aufgrund der zu reichlichen Regenfälle nicht zugänglich, nicht mal mit dem Allradfahrzeug, die Wege sind überschwemmt. Alternativ bietet man uns ein Bad in der Rivière Papeno’o an, dem Fluß, der das Tal durchquert. Die Bezeichnung Rivière weist schon darauf hin, daß dieser Fluß nicht ins Meer fließt, sondern hier im Tal in zahlreichen Seen endet.
Hier sind auch schon andere Gruppen vor uns angekommen, die vermutlich ebenfalls ihre eigentlich geplanten Wasserfälle nicht erreichen konnten. Der Fluß selbst ist nicht ideal zum Schwimmen, höchstens die Füße kann man reinhalten. Das tun wir auch, ansonsten nutzen wir den nun endlich mal etwas längeren Stop, uns mal in Ruhe die Vegetation anzuschauen. Man merkt, daß wir schon ein paar Höhenmeter gemacht haben, die Bäume sind dick bemoost, langsam fängt es an, so auszuschauen, wie ich es mir vorgestellt habe.
Weiter geht es hinauf in die Berge und ziemlich in der Mitte des Tals liegt das Relais de Maroto. Früher einmal ein Hotel, gibt es hier heute nur noch wenige Zimmer für Wanderer, ansonsten ist die Anlage verlassen, wird aber halbwegs instand gehalten. Das Personal, das für die vorbeikommenden Jeep-Safaris Mittagessen anbietet, kommt jeden Tag aus Papeete heraufgefahren. Aber das weiß ich auch nur, weil unser Guide dem französischen Paar ein paar Sätze der Erklärung gönnt.
Die beiden Franzosen sprechen auch Englisch, daher kann sich die Gruppe beim Essen ein bißchen unterhalten. Abgesehen davon, daß die Amerikaner einen etwas desinteressierten Eindruck an der Tour machen, sind sie nett und freuen sich, als wir erzählen, daß wir dieses Jahr noch nach New York reisen werden, wo sie herstammen.
Das Essen war lecker, für Tahiti-Verhältnisse auch nicht überteuert, und es ging zügig, so daß wir danach noch Zeit haben zum Fotografieren, bevor es weitergeht. Unterhalb des Relais liegt ein kleines Dorf, eines der wenigen hier in der Gegend, das nicht verlassen wurde, die Menschen hier betreiben Gemüseanbau.
Die uns umgebenden Berge liegen größtenteils bereits im Wolkenschatten, ab und zu dringt die Sonne noch durch und verteilt Streiflichter
Wir überlegen bereits, ob das hier etwas für uns wäre, ein paar Tage im Relais de Maroto und von hier aus Wanderungen unternehmen. Nur der Gedanke, daß man nachts dann hier sehr wahrscheinlich ganz allein ist, schreckt mich ein bißchen ab. Es ist doch sehr einsam hier und beim Anblick der verlassenen Hotelanlage neben dem Restaurant kommen Gedanken an das Overlook aus Shining auf.
Viele der Papeno’o-Touren enden hier und die Fahrt geht die selbe Strecke zurück nach Papeete. Wir jedoch machen die gesamte Inseldurchquerung und fahren weiter gen Süden. Bevor wir wieder zur Küste hinunter abwärts fahren, geht es noch eine ganze Weile bergauf bis der höchste Punkt der Talstraße erreicht ist, und jetzt wird es erst richtig spannend. Die Straße ist nur noch einspurig und windet sich in Serpentinen, wir müssen einige kleine Wasserläufe durchqueren, mehrmals gibt es starkes Gefälle und einmal braucht es mehrere Anläufe, bis wir eine Steigung schaffen. Inzwischen ist auch das Verdeck des Jeeps geschlossen worden, aber gottseidank hat er die Seitenteile offengelassen, denn jetzt erreichen wir die Ausläufer des Nebelwaldes.
Die aufgrund der Höhenlagen meist nur noch klein und krumm ausgebildeten Bäume sind von dicken Mooskugeln überzogen auf denen epiphytische Farne und andere Aufsitzerpflanzen leben, die Feuchtigkeit überzieht alles, auch Kameraobjektive und meine Brille, aber das ist egal, es ist herrlich.
Ich liebe diese Vegetationsformen, urwüchsige Wälder wie diese. Hier jetzt einfach aussteigen und wandern gehen zu können, ein Traum. Auf der schmalen Straße können wir aber nicht einmal anhalten, denn weiter unter uns können wir schon die nachfolgenden Jeeps anderer Anbieter erkennen, die nicht an uns vorbei könnten. Auch die Fotos werden aufgrund der Umstände nicht gut, es ruckelt und die Linsen beschlagen, aber egal.
Echte Nebelwälder, wie die Puristen unter den Biologen vermutlich sagen würden, liegen eigentlich erst in mehreren tausend Metern Höhe wie zum Beispiel in den Anden oder den Gebirgszügen Asiens und nicht viele davon sind ohne schwierige und teils gefährliche Wanderungen erreichbar. Das sind Gebiete, die ich niemals erreichen werde, so begnüge ich mich mit den Rändern und freue mich immer wieder, wenn ich irgendwo auf der Welt Gelegenheit habe, so einen Wald erleben zu dürfen.
Der Ehemann und ich staunen die Umgebung an, immerhin geht es nur langsam vorwärts, rechts neben uns ragt der Berghang auf, links geht es steil abwärts ins Tal. Es ist schon ein bißchen nervenkitzelig, aber eins muß man unserem Guide lassen, den Wagen fährt er souverän und tiefenentspannt. Das ist eben die Kehrseite der Medaille wenn man einen älteren Guide hat. Er hat zwar keine Englischkenntnisse, dafür aber die fahrerische Routine.
Der Ehemann sagt später, er würde sich die Tour auch als Selbstfahrer zutrauen und da ich kaum einen besseren Autofahrer kenne als ihn, denke ich das auch. Ich selbst würde mir das nicht zutrauen, vor aus dem Grund, daß sich auf den einspurigen Straßen immer die Situation ergeben könnte, daß man rückwärts fahren muß, am besten noch um eine Kurve, weil es mit Berghang auf der einen Seite und Abgrund auf der anderen keinen Platz zum Ausweichen oder Wenden gibt. In solchen Situationen habe ich schon gesteckt und war einem Nervenzusammenbruch nahe.
Wir werden im Verlauf der Reise noch Leute treffen, die uns erzählen, die Fahrt selbst gemacht zu haben, sind uns aber nicht sicher, ob sie wirklich die gesamte Durchquerung gemacht haben, oder auch ab dem Relais wieder umgekehrt sind, was aufgrund der Straßenverhältnisse tatsächlich sehr viel einfacher ist. Für die gesamte Inseldurchquerung braucht man schon Nerven und es ist, abhängig vom Wetter, tatsächlich auch nicht ganz ungefährlich. Einige Monate nach unserer Reise wird der Geländewagen einer ganzen Familie, die als Selbstfahrer hier unterwegs waren, bei der Durchquerung einer der Furten vom Wasser mitgerissen und konnte nur tot geborgen werden.
Langsam schrauben wir uns wieder abwärts und erreichen den Tunnel, der das Tal von Papeno’o und das Tal von Vaihiria voneinander trennt. Wir haben Glück, daß wir ihn überhaupt durchfahren können, in der Vergangenheit kam es gelegentlich vor, daß ein paar die Unabhängigkeit anstrebende Polynesier ihn blockierten. Da die vorchristliche Kultur der Polynesier vor allem animistisch ist, sind viele Dinge in der Natur hier beseelt und die Nutzung des Tals zur Stromerzeugung per Wasserkraft und das Eindringen der ja zumeist französischen Arbeiter und Ingenieure wird als Verletzung der spirituellen Überzeugungen betrachtet.
Manche Guides lassen ihre Gäste hier aussteigen und den Tunnel zu Fuß durchqueren. Die Wände sind dicht an dicht mit epiphytischen Farnen bewachsen, das hätte ich auch gern gemacht, wir fahren aber nur durch.
Etwas tiefer dann der Lac Vaihiria. Der See liegt in einer kleinen Talsenke und der kurze Spaziergang dahin ist wirklich lächerlich einfach, auch für einen Körperklaus mit schlechtem Gleichgewichtssinn und Höhenangst wie mich. Die Düsternis und die vielen Wasserfälle, die den See umgeben, haben etwas Unwirkliches. Auffällig ist für uns, die wir ja gerade aus Florida kommen, aber erneut die Stille und die Leere. Keine Tiere irgendwo, aber das ist hier so. Das einzige Geräusch ist das tröpfelnde Wasser überall.
Danach geht es zurück in die Zivilisation. Wir überqueren noch eine Furt durch einen kleinen Fluß, dann tauchen die ersten Grundstücke auf und die Straße wird auch wieder besser und wir weniger durchgeschüttelt. Hier wird viel Ingwer angebaut, die Wedel sind noch größer als die des Nahe und bilden fast ein geschlossenes Dach über der Straße.
Unser Guide setzt nach und nach die anderen an ihren Hotels und Gästehäusern ab, wir sind die letzten, die zum Fare Suisse gebracht werden und können uns auf den nun leeren Sitzbänken ausbreiten. Eine Wohltat für die Kehrseite, nun wieder auf normalen Straßen zu fahren. Hier unten an der Küste scheint auch wieder die Sonne und es ist angenehm warm. Insgesamt doch ein schöner Tag, der unsere Erwartungen an die geführte Tour zwar nicht erfüllt hat, die Natur hat uns dafür aber ganz und gar nicht enttäuscht.